Autorin von Hanni und Nanni Biografie von Enid Blyton zeichnet kritisches Bild

Enid Blyton war nicht nur eine der erfolgreichsten Kinderbuchautorinnen des 20. Jahrhunderts, sondern auch eine Meisterin der Selbstdarstellung. Jetzt, zum 50. Todestag, zeichnet eine Biografie ein nicht gerade schmeichelndes Bild.

 Zwillinge im Internat: Das Cover des ersten Bandes von Enid Blytons "Hanni und Nanni" in deutscher Ausgabe. Im englischen Original heißt die Buchreihe "St. Clare's".

Zwillinge im Internat: Das Cover des ersten Bandes von Enid Blytons "Hanni und Nanni" in deutscher Ausgabe. Im englischen Original heißt die Buchreihe "St. Clare's".

Foto: picture alliance / dpa

So schön kann das Leben sein. Mutter sitzt auf dem Sofa, die Schreibmaschine auf den Knien. Die beiden Töchter beugen sich über sie, als wollten sie beim Schreiben gleich mitlesen. Alle strahlen um die Wette, und auch Spaniel Laddie drängt sich noch ins Bild. Enid Blyton, gewiss eine der bekanntesten und beliebtesten Kinder- und Jugendbuchautorinnen des vergangenen Jahrhunderts, mochte solche Bilder, man findet die herzigen Fotos in ihren gedruckten Erinnerungen, die sie „Die Geschichte meines Lebens“ nennt.

Blyton hat dieses Buch ihrem Mann und den Töchtern Gillian und Imogen gewidmet. „Wir sind alle sehr glücklich miteinander“, schreibt sie. „Wir haben alle Sinn für Humor und meistens gute Laune. Wir achten uns und sind freundlich zueinander. Eine Wahl zwischen Beruf und Familie war bei mir zum Glück niemals nötig, weil man Bücher auch zu Hause schreiben kann. Zuallererst kommen meine Töchter. Ich wäre ja auch eine drittklassige Kinderbuchautorin, wenn ich über dem Schreiben meine eigenen Kinder vernachlässigen würde. Zum Glück habe ich genug Zeit, um allen gerecht zu werden.“

So plätschert der Heile-Welt-Text dahin. Der Leser erfährt, dass im Haushalt der Enid Blyton alles ganz normal läuft. Mutter achtet darauf, dass es sauber und ordentlich aussieht und überall Blumen stehen. Samstags nimmt sie ihren großen Korb und geht einkaufen – wie alle Mütter aus der Gegend. Wir befinden uns in einer englischen Landhaus-Idylle, wie sie freundlicher nicht sein könnte. Eine von Tochter Gillian in Auftrag gegebene Blyton-Biografie malt kräftig an diesem Bild mit.

Ausgerechnet zum Muttertag 2002, mehr als 30 Jahre nach dem Tod von Enid Blyton, erscheint ein Interview mit Tochter Imogen. Die 67-Jährige nimmt kein Blatt vor den Mund: „Die Wahrheit ist: Enid Blyton war arrogant, unsicher, anmaßend, sehr geschickt darin, schwierige oder unerfreuliche Dinge zu verdrängen, und ohne jede Spur von Mutterinstinkt.“ Die Schriftstellerin Nadia Cohen, spezialisiert auf Biografien, hat jetzt, zum 50. Todestag der Kinderbuchautorin, nachgelegt. In „The Real Enid Blyton“ ist wenig von einer liebevollen Mutter zu lesen, dafür mehr von glamourösen Partys mit ungebundenen Männern, von außerehelichen Affären, von einer möglichen lesbischen Romanze (mit der Kinderschwester Dorothy Richards), von Skrupellosigkeit und Rigorosität im Privatleben.

„Enid Blyton war schlicht bekloppt", sagt Helena Bonham Carter

Enid Blyton – die Schriftstellerin mit den zwei Gesichtern? Die britische Presse nimmt sich in schönster Hassliebe immer mal wieder die Autorin vor, die nicht nur in England Generationen von Kindern zum Lesen animierte. „War Enid Blyton die Mutter aus der Hölle?“, fragte die Zeitung „The Telegraph“. Als die BBC 2009 einen Fernsehfilm über das Leben der Schriftstellerin drehte, hatte Hauptdarstellerin Helena Bonham Carter ihre eigenen Erkenntnisse: „Die Rolle hat mich gereizt, weil Enid Blyton schlicht bekloppt war. Sie war ein emotionales Wrack und einfach komplett irre.“

Im Dickicht von Dichtung und Wahrheit bleibt zumindest eines unbestritten: Enid Blyton war eine ungemein erfolgreiche Schriftstellerin. Mindestens 700 Bücher hat sie geschrieben, dazu Tausende von Kurzgeschichten, die sie immer so anlegte, dass eine Folge von ihnen auch als Buch erscheinen konnte. Sie wusste sich, ungewöhnlich für eine Frau in den 30er und 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, clever zu vermarkten, führte als bis heute gültiges Markenzeichen ihren eigenen Schriftzug auf den Buchdeckeln ein, feierte sich in einem eigenen Magazin, erfand Serienhelden en masse, die den Konsumenten zum Fortsetzungs-Kauf verführten. Selbst als im Zweiten Weltkrieg in Großbritannien das Papier für die Buchproduktion nur noch begrenzt zur Verfügung stand, handelte sie für ihre Bücher hohe Zuteilungen aus.

Blyton muss so etwas wie eine lebende Schreib-Maschine gewesen sein. Es gibt Berichte, nach denen sie bis zu 10.000 Wörter am Tag geschrieben hat, eine Fließband-Arbeiterin der Literatur. Folgt man ihr selbst, dann ging der Schreibprozess so: „Ich sitze auf meinem Stuhl, schließe die Augen, und nach ein oder zwei Minuten zeigen sich meinem geistigen Auge die ersten Bilder – die Handlung beginnt. Wenn die ersten Szenen an mir vorbeigezogen sind, kenne ich Namen, Charakter und Aussehen der Leute, die in meiner neuen Geschichte vorkommen. Ich kenne ihre Umgebung und weiß ungefähr, was sie erleben werden. Dann öffne ich die Augen und meine Hände beginnen über die Schreibmaschine zu fliegen."

So also sind sie entstanden, die Abenteuer von Hanni und Nanni im Mädcheninternat, die Erlebnisse der Fünf Freunde (angeführt von Julian, der immer eine Lösung findet, und Georgina, dem Mädchen, das lieber ein Junge sein möchte), die Mädchen-Romane um Dolly, die Serien über Geheimnisse und Rätsel oder die im englischen Sprachraum besonders beliebten Erzählungen über den kleinen Holzjungen Noddy.

Deutschland geriet nach dem Krieg ins Blyton-Fieber

England geriet in den 40er Jahren ins Blyton-Fieber, den deutschen Markt eroberte die Schriftstellerin nach dem Krieg, dann aber zügig und kräftig und anhaltend und nicht nur mit dem Buch, sondern auch mit unzähligen Hörspiel-Kassetten. Die Großväter und Großmütter von heute finden bei ihren Enkelkindern inzwischen jene Lektüre, mit der sie selbst aufgewachsen sind.

Enid Blyton wurde 1897 im Londoner Stadtteil Dulwich geboren. Schreiben war offenbar eine Leidenschaft von früh an, sie beglückte die Umwelt mit Briefen, Gedichten, kleinen Geschichten. Während der Vater eine pianistische Karriere der auch musikalisch Hochbegabten favorisierte, entschied sich Enid für die Ausbildung zur Kindergärtnerin und Vorschullehrerin. 1922 kam ihr erstes Buch auf den Markt, zwei Jahre später heiratete sie den Verlagslektor Hugh Alexander Pollock, einen im Ersten Weltkrieg hochdekorierten Major. 1931 und 1935 werden die beiden Töchter geboren und schnell in die Hand von Kinderschwestern gegeben.

Die Ehe zerbricht und endet auf eine für Blyton kennzeichnende Weise. Beide Partner sind sich nicht unbedingt treu, unter dem Namen der Kinderschwester Dorothy Richards mietet Enid eine zusätzliche Wohnung, um sich diskret mit dem Arzt Kenneth Darrel Waters zu treffen. Als alles auffliegt, überredet sie ihren Ehemann, die alleinige Schuld an der Scheidung auf sich zu nehmen. Die Autorin weiß offenbar ganz genau, dass ihr Ruf Schaden nehmen würde, wenn sie im England des Zweiten Weltkriegs einen Ehemann, der als Kriegsheld gilt, verlassen würde.

Hugh Alexander Pollock willigt in den Handel ein – in der Hoffnung, dadurch auch weiter seine Töchter sehen zu können. Enid Blyton freilich verfolgt ihren eigenen Weg: Sie heiratet den Arzt und verbietet den Töchtern, die den Namen des neuen Ehemanns annehmen müssen, jeglichen Kontakt zum leiblichen Vater. Die Schriftstellerei bleibt von alldem unberührt, im Gegenteil: Blyton schreibt Titel um Titel, 25 sind es beispielsweise im Jahr 1943. Erst eine Alzheimer-Erkrankung setzt ihrem Schaffen ein Ende. Enid Blyton stirbt am 28. November 1968 in einem Pflegeheim in Hampstead.

Ihre Bücher werden nach wie vor gern gelesen, auch wenn ihnen Literaturkritiker und Pädagogen mit äußerster Skepsis begegnen. All diese Titel sind simpel gestrickt, in sehr einfacher Sprache, beschränken sich auf Dialoge und knappe, schablonenhafte Charakterisierungen – aber sie befeuern offenbar die Fantasie ihrer jungen Leser.

„Sie war keine gute Schriftstellerin“, sagt J. K. Rowling

Ein vernichtendes Urteil fällte Harry-Potter-Autorin Joanne K. Rowling. Im Interview mit der Frankfurter Rundschau sagt sie über Enid Blyton: „Sie war keine gute Schriftstellerin. Nur für ganz kleine Kinder konnte sie gut schreiben. Nie erlaubte sie ihren Figuren Hanni und Nanni oder den Fünf Freunden, erwachsen zu werden. Nie verschwenden diese 14-Jährigen einen Gedanken an sexuelle Gefühle, nie haben sie einen schlechten Wunsch. Es gab immer nur die bitterbösen Verbrecher und die anständigen, reizenden Mittelklasse-Kinder. Bei ihr steht Mutti immer in der Küche und backt Kuchen, während Daddy das Auto repariert. Aber Kinder erleben den Alltag nie so harmonisch. Enid Blyton war einfach eine Lügnerin.“

Wer heute Bücher von Enid Blyton kauft, kann sicher sein, dass politische Korrektheit dank einiger Überarbeitungen auch hier Einzug gehalten hat. Die Jungen besorgen immerhin auch mal den Abwasch, und aus dem Titel „Fünf Freunde und ein Zigeunermädchen“ ist „Fünf Freunde und die wilde Jo“ geworden. Weniger Sicherheit besteht beim Kauf eines Blyton-Titels über die tatsächliche Autorenschaft von Enid Blyton: Mit Zustimmung der Erben werden unter Blytons Namen die Serien von verschiedenen Autoren ins Unaufhörliche weitergeschrieben.

Kritikerin Joanne K. Rowling ist widerlegt: Die Fünf Freunde sind erwachsen geworden. Mittlerweile gibt es tatsächlich Enid Blyton für Erwachsene, mit so schönen zeitgeistigen Titeln wie „Fünf Freunde werden Helikoptereltern“ oder „Fünf Freunde essen glutenfrei“. Die nette Anne, die immer noch fürs Kochen zuständig ist, begeistert sich für Chia-Samen und Goji-Beeren und serviert der Gruppe gern auch mal Zoodles, aus Zucchini gemachte Nudeln. Die Fünf scheuen halt vor nichts zurück. Speziell der britische Leser wird sein Vergnügen an „Five on Brexit Island“ haben.

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