Bücher über Wandern und Radfahren Auf Kurzstrecken durch die Krise

Verunsichertes Land, verunsicherte Menschen: Die Autoren Anna Magdalena Bössen und Jürgen Wiebicke schalten in ihren Büchern absichtlich runter und suchen Erkenntnis zu Fuß und per Fahrrad.

 Erkenntnissuche zu Fuß: Wandern kann nachdenklich machen.

Erkenntnissuche zu Fuß: Wandern kann nachdenklich machen.

Foto: dpa

Der alte Widerspruch im Leben: Sicherheit macht unfrei, Freiheit macht unsicher. Anna Magdalena Bössen hat es im Wortsinne er-fahren: Ein Jahr und 8160 Kilometer lang ist die Hamburger Rezitatorin per Rad durch Deutschland getourt, verdiente sich mit Gedichtlesungen Kost und Logis bei wechselnden Gastgebern (online organisiert, bisweilen nur Stunden vor der Ankunft). In ihrem nachdenklichen Buch „Deutschland – Ein Wandermärchen“ berichtet sie über dieses interessante Experiment.

Bössen erlebt und schreibt intensiv, hat nah am Wasser und nah an kindlicher Freude gebaut, liebt das große Gefühl und die schnellen Entschlüsse – da radelt sie schon mal spontan vom geplanten Weg ab und geht irgendwo in der Natur verloren. Das ist kein Spaß für ihre gelegentlichen Mitfahrer, schafft aber tiefe Einblicke in eine komplexe Persönlichkeit.

Dass alle Gastgeber dichtungsaffine Leute sind, lässt die Reise zudem in einer Art Parallelwelt stattfinden, einer der Klein- und Lebenskünstler oder der Wohlstandsbildungsbürger mit eigenem Schloss in Mecklenburg. Bössen thematisiert das nicht; muss sie aber auch nicht. Die wirkliche Welt bricht brutal genug herein, als Bössens Mutter während der Reise an Krebs stirbt.

Zwischen den Zeilen porträtiert die 36-Jährige eine Generation zwischen allen Stühlen, zwischen dem Wunsch nach Flexibilität und dem nach Verwurzelung. Und es beeindruckt, wie Bössen das nicht zum Gejammer geraten lässt, sondern sich durchbeißt – bis zur allmählichen Erkenntnis, die sich nicht erklären, sondern tatsächlich nur fühlen lässt: Ohne Zurückkommen, Ankommen, Dableiben (kurz: „Heimat“) kommt selbst der mobilste Flexibilist auf Dauer nicht aus.

Einziges Manko des Buches ist, dass wir wenig Konkretes über Bössens Rezitationsabende erfahren. Nachholen lässt sich das auf der Lesereise der Autorin; bislang einziger Termin für NRW ist der 13. Oktober 2017 in Plettenberg, Sauerland. Mehr Infos auf www.ein-wandermaerchen.de.

Anna Magdalena Bössen:Deutschland, ein Wandermärchen. Ludwig, 368 S., 16,99 Euro

Einen anderen und doch ähnlichen Ansatz wählt der Kölner Journalist Jürgen Wiebicke, Moderator der Sendung „Das philosophische Radio“ auf WDR 5: Er war im Sommer 2015 einen Monat lang zu Fuß von Köln nach Bielefeld unterwegs. Ihm geht es auch, aber weniger um das eigene Erleben – sondern darum, aus der Blase des Denkers und Schreibers herauszukommen; ein Land im Dauer-Krisenmodus sozusagen per Kurzstrecke zu erkunden: „Noch jedes Mal, wenn ich zu Fuß längere Zeit unterwegs war, war mir [...] aufgefallen, wie die Langsamkeit des Gehens allmählich den Blick schärft.“

Auf seinem Weg hat er zufällige Passanten und ausgewählte Experten befragt, hat unter anderem mit Philosophen und Theologen gesprochen, mit Jägern und Bauern, Industriellen und Pfandflaschensammlern, einem Flüchtling, der vor Muslimen warnt, einem Priester und mit Franz Müntefering.

Beunruhigender Ton fast aller Gespräche: Das Vertrauen ist weg. Das Wort „Zukunft“ ist keine Verheißung mehr, sondern eine Drohung; die Sache ist es erst recht. Immer wieder hört Wiebicke die Frage: Was wird wohl in fünf Jahren sein? Er sieht und hört, wie fernab vom Urban Gardening der Großstädte auf dem Land ganze Ökosysteme zusammenbrechen.

Wie nicht nur Arbeitnehmer, sondern auch ihre Chefs unter dem Schnelligkeits- und Konkurrenzdruck ächzen, dem weltweiten Wettbewerb mit Billiganbietern, den ein verantwortungsvoller Arbeitgeber nicht gewinnen kann. Wie hippe Wohlstädter und bodenständige Landbewohner wechselseitig das Gefühl verlieren, noch irgendetwas miteinander zu tun zu haben. „Das Wahlvolk blickt nicht mehr durch. Eine Traumkonstellation für Populisten.“ Wohlgemerkt: Im Sommer 2015, als weder vom Brexit noch vom US-Tribun irgendwer irgendwas ahnte.

Dieses Buch ist, was wir brauchen: Eine simple, unhysterische Zustandsbeschreibung, wie schlimm es ist – und dass es noch schlimmer werden kann, wenn kein Wunder geschieht. Solche Bücher gibt es viele – aber dieses liest sich besonders eindringlich.

Jürgen Wiebicke:Zu Fuß durch ein nervöses Land. KiWi, 323 S., 19,99 Euro

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