Neue Musik, musikalische Partner und die MeToo-Debatte Anne-Sophie Mutter im Exklusivinterview

Bonn · Die Geigerin Anne-Sophie Mutter kommt am 4. Juni zu einem Konzert in die Kölner Philharmonie. Unter anderem spielt sie die zweite Violinsonate von Krzysztof Penderecki. Über die Wiederbegegnung mit dem Werk und über vieles mehr gibt sie hier Auskunft.

Waren Sie selbst nach einem Konzert je einmal so unzufrieden mit sich, dass Sie es im Nachhinein lieber nicht gegeben hätte?

Anne-Sophie Mutter: Nein, das ist noch nicht vorgekommen. Ich bereite mich immer sehr gut und sehr langfristig vor. Im Laufe eines Künstlerlebens lernt man ja auch, was es heißt, mehrere Programme gleichzeitig zu jonglieren. Das kann zwar manchmal extrem anstrengend sein, doch wenn ich auf die Bühne gehe, bin ich sofort voll drin. Natürlich gibt es immer wieder Konzerte, die ganz besonders glückhaft sind, Konzerte, nach denen man das Gefühl hat, seiner Wunschinterpretation vielleicht noch ein Stückchen näher gekommen zu sein. Aber wegen mangelnder Leidenschaft oder fehlender akribischer Vorbereitung ist noch nie ein Konzert gescheitert.

Müssen für die von Ihnen erwähnten „besonders glückhaften“ Momente besondere Parameter zusammenkommen?

Mutter: Es wäre schön, wenn es da ein Rezept gäbe wie für einen guten Bienenstich. Es hilft natürlich schon sehr, wenn man die Komposition, die man spielt, wirklich sehr gut kennt. Ich bin gerade beim Re-Studium von Krzysztof Pendereckis zweitem Violinkonzert, den „Metamorphosen“. Es ist faszinierend, wie man dabei das Gefühl entwickelt, wieder Neues zu entdecken. Vielleicht empfindet man es auch nur als neu, frisch und aufregend. Auf jeden Fall bringt die Zeit, die man mit dem Werk verbringt, einem den Inhalt näher. Die Komposition wird zu einem zweiten Ich. Und in diesem Zustand des Voll-Durchdrungen-Seins stellt sich der „Flow“ natürlich eher ein, als wenn man – gerade bei einem zeitgenössischen Werk – nur an der Oberfläche entlangschliddert.

Und wenn Komponisten – was ja vorkommt – erst spät mit ihrem neuen Werk fertig werden?

Mutter: Ich erinnere mich an die Uraufführung von Pendereckis zweiter Violinsonate, die wir ja jetzt auch in Köln spielen werden. Da mussten wir die für Januar 2000 vorgesehene Uraufführung auf den April verschieben, weil das Werk nicht fertig war. Da war dann nichts mit „Flow“. Da war nur Panik. Daraus entstand der Wunsch, das Werk irgendwann einmal mit so viel Vorlauf zu spielen, dass wir wirklich in die Tiefe vordringen können. In der Sonate gibt es viele Ebenen. Und aus diesen vielen Gesteinsschichten eine Physiognomie herauszuschnitzen, ist schon extrem schwierig und zeitaufwendig.

Seit wann arbeiten Sie jetzt daran?

Mutter: Wir haben sie natürlich nicht die letzten 18 Jahre permanent in der Hand gehabt, aber seit 2016 studieren Lambert und ich sie wieder intensiv ein. Wir haben sie auch schon in der Carnegie Hall in New York aufgeführt. Und wir werden noch einige Recitals in Polen um den Geburtstagmonat Pendereckis geben, der im November 85 Jahre alt wird.

Auf Ihrer Tour spielen Sie auch eine echte Uraufführung.

Mutter: Die Idee ist, Penderecki, von dem wir zu Beginn das „Duo concertante“ spielen, als Klammer zu nehmen, und dazwischen zunächst das neue Werk „The Fifth Season“ von André Previn. Das ist sehr farbige Musik, ein bisschen jazzig, patchworkartig – und lässt Raum für eigene Gedanken. Und danach kommt Bachs Partita in d-Moll. Mozarts Sonate in e-Moll bereitet schließlich den Boden für die ebenfalls verhalten anhebende Sonate von Penderecki, die mit einem Pizzicato der Geige beginnt. Penderecki ist ein Meister der Form. In der Sonate ist schon beim ersten Hören zu erkennen, dass es da eine wunderbare Architektur gibt. Einen roten Faden, der variiert und ausgebaut und dann wieder auf seine Keimzelle zurückgeführt wird. Sehr aufregend!

Wie muss neue Musik beschaffen sein, dass Sie von ihr unmittelbar angesprochen fühlen?

Mutter: Es ist immer wieder die Form. Eine Form, die mit völlig neuen musikalischen Gedanken, Harmonien und vor allen Dingen Emotionen erfüllt ist. Sie muss – für mich – eine sinnliche Komponente haben, in der die Geige erkannt wird. Nicht nur in ihrer traditionellen Gesanglichkeit, es müssen schon auch neue Komponenten dazukommen. Ich hatte das große Glück, dass es allen Komponisten, die für mich in den letzten 30 Jahren geschrieben haben, gelungen ist, der Geige Neues abzuringen.Und das fand ich immer total spannend. Aber wenn ich mir Neutöner anhöre, die den Bogen sul ponticello geräuschhaft hin- und herschaben lassen, frage ich mich, wozu ich Musik studiert habe. Das kann auch ein kleines Kind ohne Unterricht. Dafür muss man kein Streichinstrument verwenden. Das ist an der Natur und an den Möglichkeiten des Instruments völlig vorbeikomponiert.

Würden Sie sagen, Sie pflegen eine eher konservative Haltung zur Avantgarde?

Mutter: Für mich ist Musik auf jeden Fall mehr als eine Aneinanderreihung von Geräuschen. Die Musik sollte schon der Form folgen. Nicht umsonst hat die Akropolis unser ganzes künstlerisches Schaffen bis heute beeinflusst. Warum haben Künstler wie Leonardo da Vinci Körper seziert? Sie wollten wissen, was unter dem Fleisch ist, was da brodelt, wie das Gerüst, das Skelett ist, wo die Sehnen sind. Diesen inneren Kampf des musikalischen Körpers möchte ich auch gern in einer Partitur spüren. Und nicht nur ein Patchwork zufälliger Ideen. Das ist aber nur meine ganz subjektive Haltung, die sich aber natürlich auch in meiner Werkwahl widerspiegelt.

Vor ein paar Jahren haben Sie in einem Interview mit dieser Zeitung auf das Talent des Pianisten Daniil Trifonov hingewiesen. Mittlerweile gibt's ein gemeinsames Album: Franz Schuberts „Forellenquintett“. Wie war das Zusammentreffen?

Mutter: Es hat unglaublich viel Spaß gemacht. Wir kannten uns ja schon ein paar Jahre, weil ich damals beim Tschaikowsky-Wettbewerb, den er gewonnen hat, bei den Geigern in der Jury saß. Ich habe da natürlich auch die Pianisten gehört und habe Trifonov mit meinem Sohn, der ein großer Pianistenfan ist, besucht. Später haben wir bei mir zu Hause in München ein bisschen Brahms und Franck gespielt. Das war schon sehr aufregend. Und dann haben wir uns zu Schuberts „Forellenquintett“ verabredet, das ich mit meinen Streicherkollegen schon vorgeprobt hatte. Ich hatte mir auch schon einen interpretatorischen Entwurf zurechtgelegt und dachte, hoffentlich kommt er jetzt nicht mit der traditionellen Auffassung, in der die Forelle schon lange tot und in Butter geschwenkt ist. Aber schon beim ersten Akkord habe ich gespürt, dass er genau die gleiche Auffassung hat und dieselbe Spritzigkeit und dieses joie de vivre will, das auch ich in der Musik spüre. Das war dann besonders glückhaft. Wie haben uns gesucht und gefunden. Oder besser: nicht gesucht, sondern einfach nur gefunden.

Damit wären wir wieder bei dem Ausgangsthema, was es für eine glückhafte Interpretation eines Stücks braucht.

Mutter: Klar, da müssen Partner dabei sein, bei denen die Funken fliegen. Wobei: Zu viel Gleiches ist auch nicht gut. Bei Trifonov war die Kombination ideal.

Der Dirigent Cristian Macelaru zählt ebenfalls zu den noch jüngeren Musikern, denen Sie ein Riesentalent bescheinigen. Freut es Sie, wenn jemand wie er nun Chef des WDR Sinfonieorchesters wird?

Mutter: Ja, sehr. Wir haben erst vor kurzen zusammen konzertiert. Ich beobachte die jungen Dirigenten, die klug und begabt sind, die sich vorbereiten und ein Orchester formen können.

Auf der anderen Seite erlebt die Klassik gerade auch den Sturz großer Dirigentenpersönlichkeiten wie James Levine und Charles Dutoit. Wie stehen Sie zu der MeToo-Debatte in der Klassik?

Mutter: Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Offensichtlich neigt der Mensch überall dort, wo es um Machtpositionen geht, dazu, die auch mal auszunutzen. Das ist verurteilenswert. Und ich finde es gut, dass man darüber spricht. Andererseits führt das auch dazu, dass wir vielleicht übervorsichtig werden. Wenn ich beim Unterrichten einem Geigenstudenten ans Handgelenk fasse, um ihm etwas zu zeigen, frage ich jetzt vorher schon um Erlaubnis. Es wäre schade, wenn der Machtmissbrauch zu einem freudlosen Umgang miteinander führen würde. Ich finde es hier genauso wichtig darüber zu sprechen, wie es in der katholischen Kirche eigentlich auch sein müsste. Dass Priester für ihre Verfehlungen exkommuniziert werden, darauf warten wir ja schon lange. Niemand darf Immunität haben, wenn es um Anstand geht.

2020 feiert die Welt Ludwig van Beethovens 250. Geburtstag. Als Geburtsstadt ist Bonn natürlich auch dabei – wenn auch bedauerlicherweise ohne großen Konzertsaal. Werden Sie trotzdem mal vorbeischauen?

Mutter: Ja, natürlich. Sogar zwei Mal. Ich werde ein Benefizkonzert für das Geburtshaus Beethovens im dortigen Kammermusiksaal geben und ein Konzert, von dem ich allerdings noch gar nicht weiß, wo es stattfinden soll.

Montag, 4. Juni, 20 Uhr, Philharmonie Köln: Anne-Sophie Mutter (Violine), Roman Patkoló (Kontrabass) und Lambert Orkis (Klavier) spielen Werke von André Previn, J. S. Bach, W. A. Mozart und Krzysztof Penderecki. Karten gibt es bei Bonnticket.

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