Ruhrtriennale in Bochum An den Ufern der Lethe

Bochum · Willibald Glucks „Alceste“ zur Eröffnung der Ruhrtriennale in Johan Simons minimalistischer Regie

 Im Kreis der Familie: Alceste, gesungen von Birgitte Christensen. Im Hintergrund: Dirigent René Jacobs.

Im Kreis der Familie: Alceste, gesungen von Birgitte Christensen. Im Hintergrund: Dirigent René Jacobs.

Foto: Ursula Kafmann

Die irrwitzigen Koloraturen, mit denen die Kastraten und Primadonnen in den italienischen Barockopern ihr Publikum schwindelig sangen, waren dem Komponisten Christoph Willibald Gluck ein Graus. Ebenso deren unübersichtliche, von hinterlistigen Intrigen gespickte Handlungsmuster. Die Maxime der von Gluck und seinem gleichgesinnten Librettisten Ranieri de' Calzabigi in der Mitte des 18. Jahrhunderts ausgerufenen Gegenbewegung lautete daher sinngemäß: Zurück zu den Wurzeln der griechischen Tragöde. Diesem Geist bleibt Johan Simons in seiner minimalistischen Regie treu, die er Glucks zweiten Reformoper „Alceste“ zum Auftakt seiner zweiten Saison als Intendant der Ruhrtriennale in der Bochumer Jahrhunderthalle angedeihen lässt.

Anders als zum Beispiel bei David Pountneys Inszenierung von Bernd Alois Zimmermanns „Die Soldaten“ vor zehn Jahren, findet eine komplizierte Bühnenmaschinerie diesmal keine Verwendung. Zurück zur Einfachheit also auch hier. Die von den Tribünenplätzen des Publikums L-förmig eingefasste, langgestreckte Bühne besteht in der Hauptsache aus einer Spiegelfläche auf dem Boden, die den mythologischen Fluss des Vergessens Lethe symbolisiert (Bühne: Leo de Nijs). Darauf ein paar Gartenstühle aus billigstem weißem Plastik, die dem Chor als Sitzgelegenheit ebenso dienen können wie den Protagonisten bei stärkeren Gefühlsausbrüchen als Wurfgeschosse. Beim Erdbeben in der Tempelszene kracht noch eine Ladung weiterer Stühle vom Bühnenhimmel – der spektakulärste Effekt, zu dem Simons sich in den drei Aufführungsstunden hinreißen lässt.

Der Grundkonflikt der 1767 uraufgeführten, auf Euripides zurückgehenden Oper erwächst aus dem Entschluss Alcestes, ihr Leben für das ihres Gatten, des Königs Admeto, hinzugeben. Der im Sterben liegende Herrscher kann, so will es Apollo, nur gerettet werden, wenn ein anderer für ihn den Tod auf sich nimmt. Aus dem Volk ist niemand bereit: Wer dient und wer regiert, ist zum Leid geboren, singen die Untertanen in mitfühlendem Moll. Also schlüpft, um Apollos Orakel zu erfüllen, Alceste in die Opferrolle, die sie angesichts des Abschieds von Mann und Kindern schweren Herzens annimmt. Birgitte Christensen gestaltet die anspruchsvolle Partie mit wunderschöner, ausdrucksvoller Sopranstimme, mit der sie die unendliche Farbpalette der Gefühle hörbar macht: Angst, Sorge, Liebe, aber auch Wut und Verzweiflung. Wobei ihre leisen Töne nicht weniger Emotionen transportieren, als es die Ausbrüche tun. Ihre Schultern tragen den ganzen ersten Teil der Oper, deren Höhepunkt die Begegnung Alcestes mit dem Todesgott am Ufer des Lethe in der Mitte des zweiten Aktes ist, wo Simons klug die Pausenzäsur setzt.

Da in der Oper jedoch vor allem innere Konflikte ausgetragen werden, die Menschen mit den Göttern und dem eigenen Schicksal hadern, gerät der zweite Teil etwas larmoyant und daher zäh. Simons fällt da auch nicht wirklich ein Mittel ein. Dass Gluck in der zehn Jahre späteren Pariser Fassung, anders als in Bochum zu erlebenden italienischsprachigen Wiener Originalfassung, noch die Figur des Herkules als Retter einführt, mag damit zusammenhängen.

Musikalisch ist der Abend aber immer ein Genuss. Thomas Walker singt den Admeto mit strahlendem ausdruckvollen Tenor, Kristina Hammerström verleiht der mitleidenden Ismene musikalisch und emotional Kontur. Anicio Zorzi Giustiniani überzeugt in der Rolle als Evandro. Immer ein Höhepunkt waren die Auftritte von Bariton Georg Nigi als Apollo (und in weiteren Rollen), der als zynischer Conferencier des Todes brillierte.

Den Chorpart, dem Gluck dem Vorbild der griechischen Tragödie folgend eine sehr große Rolle zuweist, gestaltet Teodor Currentzis' erstklassiges Ensemble MusicAeterna aus dem russischen Perm. Kostümbildnerin Greta Goiris verleiht den Sängerinnen und Sängern mit einem Stilmix aus Anzügen und Gewändern, die mit einem kuriosen Blumenbouquet drapiert sind, etwas Überzeitliches. Am Ende ist es vor allem Dirigent René Jacobs, der den Abend zu einem Ereignis werden lässt. Nicht nur, weil er Chor und Solisten wunderbar anzuleiten versteht, sondern auch das B'Rock Orchestra zu präzisem, sorgfältig artikuliertem und zugleich beseeltem Spiel anleitet, dem man endlos zuhören möchte. Großer Jubel für alle Beteiligten.

Weitere Aufführungen: 20., 21., 25., 27. und 28. August. Karten unter www.ruhrtriennale.de.

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