Käthe Kollwitz Museum Köln Porträtistin Annelise Kretschmer neu entdeckt

Köln · Das Kölner Käthe Kollwitz Museum entdeckt die Dortmunder Porträtistin Annelise Kretschmer neu. 80 Vintage-Bilder vermitteln das Lebensgefühl von sechs Jahrzehnten.

 Annelise Kretschmer: Porträt der Tochter Nina, 1943.

Annelise Kretschmer: Porträt der Tochter Nina, 1943.

Foto: Kollwitz-Museum

So sieht Selbstbewusstsein aus: Als Annelise Kretschmer um 1929 ihr Selbstporträt aufnimmt, ist sie etwa 26, weiß genau, was sie will, weiß offenbar auch, dass sie es kann und schafft. Sie strahlt die Aura einer jungen, modernen, sehr sympathischen Frau aus, einer Fotografin mit eigenem Stil. Als eine der ersten Frauen in Deutschland eröffnet sie 1929 ein Fotoatelier in ihrer Geburtsstadt Dortmund.

Bald bestückt sie auch einen Schaukasten am Alten Markt in der Innenstadt, wo sie stolz ihre Kunst, in erster Linie Porträts, präsentiert. 1929 hat sie ihre Ausbildung in München, Essen und Dresden hinter sich, hat Erfahrungen auf Fotoreisen nach Nordafrika und Paris gesammelt.

An der Stadt an der Seine findet sie zu ihrem Stil. Der ist ganz anders als etwa der der Parisfotos von Germaine Krull, die außergewöhnliche Perspektiven und die Fragmentierung als Stilmittel wählt. Oder der der Florence Henri, die den Menschen und einzelne Details in den Mittelpunkt rückt. Kretschmer ist in Paris fasziniert von Texturen, Oberflächen, vom Muster der Gardinen im Sonnenlicht, von Schattenspielen an der Wand und Tropfen auf dem Glas. Man denkt an Fotografie der Neuen Sachlichkeit, fühlt sich ans Bauhaus erinnert.

„Kretschmer ist ein Solitär, hatte keine Vorbilder und hat keine eigene Schule geprägt“, sagt gleichwohl der Kölner Fotoexperte Thomas Linden, der für das Käthe Kollwitz Museum die grandiose und verdienstvolle Ausstellung über Annelise Kretschmer (1903-1987) kuratiert hat. Die Fotografin sei fast nur in Fachkreisen bekannt, meint er.

Seit der ersten und bislang letzten Retrospektive im Essener Folkwang, in der Ute Eskildsen 1982 ihre Entdeckung Kretschmer präsentierte, sei es still um die Dortmunder Fotografin geworden. Zeit für eine Wiederentdeckung. Das Kollwitz Museum, das sich mit Ausstellungen über Lotte Jacobi und Ellen Auerbach auf dem Feld der historischen Fotografie einen ausgezeichneten Ruf erarbeitet hat, ist der richtige Ort dafür.

Mit 80 exzellenten Vintage-Abzügen, die von Sepia-tonigen, samtigen Bromöl-Drucken von der Afrikareise aus den 20er Jahren bis zu Schwarz-Weiß-Porträts Mitte der 70er Jahre reichen, wird das Werk einer hochinteressanten Fotografin ausgebreitet. Zu sehen ist technische Perfektion: Kretschmer arbeitete mit nicht sehr lichtempfindlichem Film, der zweiäugigen Rollei oder der Hasselblad 500, verwendete dann in der Dunkelkammer einen kräftigem Entwickler, der differenzierte Schwarz-Weiß-Kontraste zutage förderte.

Wunderschöne Frauen, Momentaufnahmen von Kindern

Sie wolle ihre Porträtmodelle charakterisieren, sagte sie, ihnen ihre ganze Fantasie widmen, suche den Kontakt, pfeife auf Konventionen: „Ziehen Sie doch das an, was Ihnen gefällt“, sagt sie den Kunden, die ihr Studio besuchen. Die Sitzungen sind dann schnell und unkompliziert. So entstehen Bilder, die das Lebensgefühl etwa der späten 20er Jahre vermitteln. Man sieht wunderschöne Frauen, Annelise Kretschmer fotografiert auch ihnen Mann, den Bildhauer Sigemund mit dem Töchterchen Tatjana am Strand von Spiekeroog. Lichtet auch ihre drei anderen Kinder und deren Freunde ab. Es sind intime Studien, frische, spontan wirkende Momentaufnahmen.

1933 ändert sich viel für die Halbjüdin Kretschmer. Die Nazis werfen sie aus der „Gesellschaft deutscher Lichtbildner“, immer wieder wird ihr Schaukasten beschmiert. Unter erschwerten Bedingungen arbeitet sie weiter. Im Sommer 1944 wird das Atelier durch Bomben zerstört. Annelise Kretschmer lässt sich nicht unterkriegen, startet im 1950 wiedereröffneten Dortmunder Studio 47-jährig eine zweite Karriere.

Erneut gelingt es ihr, mit Porträts den Geist der Zeit einzufangen, wobei ihr die Präzision, die wir noch von ihren Paris-Impressionen her kennen, eine Hilfe ist. Ihre Bilder meißeln gleichsam das essenzielle Motiv heraus, eine interessante Physiognomie, um die herum alles verschwimmt, kräftige Bildhauerhände, ein zartes Detail der Frisur.

Herrliche Frauenporträts entstehen, aber auch fantastische Studien, etwa von Picassos Galeristen Daniel-Henry Kahnweiler sowie den Bildhauern Fritz Wotruba und Ewald Mataré. Alles akkurat beobachtet von diesen wachen, intensiven Augen, die wir im Selbstporträt von 1929 kennen und schätzen gelernt haben.

Käthe Kollwitz Museum, Köln; bis 27. November. Di-Fr 10-18, Sa, So 11-18 Uhr. Katalog (Emons) 18 Euro

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