lit.Cologne Joschka Fischer: Europa als Kassengift?

KÖLN · "Wann immer ein Autor ein Buch über Europa schreibt, kann er sicher sein: Das wird kein Bestseller." "Zeit"-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo weiß das, "denn jede unserer Ausgaben mit Europa-Schwerpunkt liegt wie Blei in den Kiosken."

 Teilt noch gern aus, kann aber auch zuhören: Joschka Fischer.

Teilt noch gern aus, kann aber auch zuhören: Joschka Fischer.

Foto: Thomas Brill

Der Kontinent als Kassengift - Joschka Fischer will das weder als Autor ("Scheitert Europa?") noch als ehemaliger Außenminister glauben. "Für mich war Europa immer die Antwort auf die schreckliche erste Hälfte des 20. Jahrhunderts."

Aktuell sieht er in der Griechenland-Krise "zwei Züge aufeinander zu rasen" und erinnert an den Beginn der Finanzkrise, als ranghöchste US-Experten Lehman Brothers opferten. "Zwei Tage später hätte keiner von ihnen diese Entscheidung noch einmal getroffen."

Fischer stellt klar: "Ich springe nicht gern in einen dunklen Schacht." Mit Griechenlands Euro-Austritt "könnte der Run gegen den Euro erst recht losgehen", und die Hellenen würden ein unsicherer Kantonist auf dem Balkan.

Di Lorenzo ist im WDR-Sendesaal kein artiger Stichwortgeber und fragt, warum hier Menschen auf Zinsen für ihre Altersvorsorge verzichten sollten, "während Griechenland es nicht schafft, die Steuern seiner Reeder einzutreiben". Doch Fischer bleibt standhaft dagegen, "60 Jahre erfolgreicher europäischer Integrationspolitik vor die Wand zu fahren".

Zwar wirft er der Bundeskanzlerin vor, nach Ausbruch der Finanzkrise eine gemeinsame europäische Antwort torpediert zu haben, sagt aber auch: "Wenn Angela Merkel sechs Amtszeiten machen will, ist das für die SPD und die Opposition eine schockierende Nachricht, aber nicht für mich."

Gelegentlich zischen Funken zwischen den Gesprächspartnern, dann raunzt der Politiker: "Ich habe eben nicht so einen feinen, charmanten Stil wie sie." Di Lorenzo mutmaßt, dass die Grünen alle Bürger zu besseren Menschen umerziehen wollten. Dazu Fischer: "Wenn Sie lange genug nachts in Frankfurt Taxi gefahren sind, haben Sie diese Illusion nicht mehr."

Putin-Versteher ist er angesichts der Ukraine-Krise nicht, wirft ihm auch vor, die immensen russischen Rohstoffprofite nicht in eine Strukturreform der heimischen Wirtschaft gesteckt zu haben. Hat sich Gerhard Schröder als Kanzler in Putin geirrt? "Ob er sich geirrt hat, müssen Sie ihn fragen - aber er irrt."

Joschka Fischer teilt nach wie vor gern aus, aber nimmt Christian Wulff in Schutz, mit dem die Medien "denkbar unfair" umgesprungen seien. Das passt zu di Lorenzos Interviewbuch "Vom Aufstieg und anderen Niederlagen", das Verleger Helge Malchow vorstellt.

Schließlich erscheint es wie Fischers Werk bei Kiepenheuer & Witsch. In den gesammelten Gesprächen geht es um Wendepunkte, Krisen, die auch der Minister erlebte: Als die Debatte über seine Sponti-Zeiten samt Steinwürfen gegen Polizisten losbrach, "war ich an einem Freitag so down, dass ich am liebsten alles hingeworfen hätte".

Für den 66-Jährigen steht fest: "Das Leben in den Schlagzeilen ist sehr anstrengend", und er fügt hinzu: "Sie glauben gar nicht, wie schön es ist, privat zu sein!" Dabei hilft nach wie vor die Baseballkappe. "Passt die denn noch?", fragt di Lorenzo. "Es hat sich bei mir zwar einiges geändert, aber nicht die Hutgröße", meint Fischer. Hut ab, gutes Gespräch.

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