Landvermesser und Archäologe Autor Jürgen Becker wird 85

Köln · Der Kölner Schriftsteller Jürgen Becker feiert am Montag seinen 85. Geburtstag. Schöner, präziser als er kann man das Wesen von Literatur kaum erfassen.

Köln als Resonanzraum: Der Schriftsteller Jürgen Becker, aufgenommen im Juni 2017.

Köln als Resonanzraum: Der Schriftsteller Jürgen Becker, aufgenommen im Juni 2017.

Foto: dpa

Was für Martin Walser der Bodensee, ist für Jürgen Becker die Kölner Bucht: Resonanzraum seines Schreibens. In einer furiosen Adjektiv-Arie sieht er Köln als (in Auswahl) „grobe, grinsende, gleichgültige, mütterliche, empfindliche, schnapstrinkende, unvergessliche Stimmungs-, Heimweh-, Wasser- und Schlechtwetterstadt, die in ihrer Widersprüchlichkeit genügend Reize für einen Künstler hat.“

Und der Autor, der an diesem Montag seinen 85. Geburtstag feiert, bekennt: „Es ist für meine Bücher wichtig, dass sie gerade hier entstanden sind.“ Wie wichtig, beweist der rechtzeitig erschienene Band „Lokalseiten“, der Texte von den 1960er Jahren bis heute vereint.

In seinen Gedichten und Journalromanen ist der Büchner-Preisträger stets Landvermesser und Archäologe zugleich. Ihn faszinieren die Schichten des Ortes, die Sedimente, in die Zeitgeschichte und persönliches Schicksal eingeschrieben sind. Dass hier Stefan Lochner und Max Ernst, Willy Ostermann und Heinrich Böll gelebt haben, ist ihm ebenso wichtig wie die eigenen Erinnerungen: das unscharfe Gedächtnisbild, das ihn als kleinen Jungen auf der Strundener Straße in Dellbrück zeigt, oder die Doppelbelichtung von Trümmervergangenheit und Gegenwart: „Der tote Mensch im Nichts der Hohe Straße, die heute von uns lebendigen Menschen nur so wimmelt.“

Vielstimmigkeit von Jürgen Becker

Im „Brief an einen linksrheinischen Freund“ blickt der in Köln-Brück wohnende Becker aus seinem Büro im 16. Stock des Deutschlandfunks, wo er von 1974 bis 1993 die Hörspielredaktion leitete. Ein Habichthorst über dem Rheintal, das der Schriftsteller in seinen Hässlichkeiten und Schönheiten erfasst, von den Hügeln um seinen Zweitwohnsitz Odenthal bis zum Vorgebirge.

Gabriele Ewenz hat die Texte dieses Bands klug ausgewählt. In Reden, Gedichten, Essays und Erinnerungen wird die Vielstimmigkeit des Autors hörbar. Als er 1968 den Kölner Literaturpreis bekam, empörte ihn die Tatsache, dass die Polizei kurz zuvor eine Veranstaltung der Filminitiative Xscreen im U-Bahnhof Neumarkt verhindert hatte. Es erschien ihm als „Farce, wenn die Stadt Köln mit der einen Hand Kunstpreise verleiht und mit der anderen die Freiheit der Kunst abwürgt“. So politisch klingt Becker nicht oft, doch kritisch ist er stets. Gegenüber Bausünden wie in der Dom-Umgebung, „die vollgekotzt ist mit Beton“, gegenüber einer Stadt, „in der sich ja jede Karnevalsgesellschaft einen ,Literaten’ hält“.

Doch es gibt ja auch das andere Köln, das er in wunderbaren Gedichten über Walther König oder Gigi Campi aufleuchten lässt. Oder die Erinnerung an die 1950er Jahre und Karlheinz Stockhausen: Sein Geist habe Köln damals zu einer Metropole gemacht, „einer Hauptstadt dessen, was wir einmal die Avantgarde nannten“.

Das Wesen von Literatur

Und wer weiß, ohne Stockhausen hätte Becker vielleicht nicht jene Neue Musik in die Literatur gebracht, die man in seinen frühen Werken „Felder“ und „Ränder“ bewundert.

Nah fühlt sich der Schriftsteller auch Chargesheimer oder Hermann und Clärchen Baus, überhaupt der Fotografie als „Medium des Erschreckens“, weil sie das unwiderruflich Vergangene festhält. Ähnlich ist es mit der Literatur, die jene fließende Grenze zwischen Erinnerung und Imagination abtastet. Dabei sind Orte, Landschaften wichtig, doch stößt der Autor unweigerlich auf „die Geschichte des Vergessens, die ihr Schweigen, ihre Leere ausbreitet, bis es dann auftaucht, das Phantom des Unwiederbringlichen, das zum Sprechen zu bringen die Wiederbelebungsversuche des Schreibenden sind“.

Schöner, präziser als Jürgen Becker kann man das Wesen von Literatur kaum erfassen.

Jürgen Becker: Lokalseiten. Ausgewählt und bearbeitet von Gabriele Ewenz. Band lik 04, herausgegeben von der Stadtbibliothek Köln im Verlag der Buchhandlung Klaus Bittner. 93 S., 16,80 Euro.

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