Neue Alben von Anohni und James Blake Seelenverwandte

BONN · „Hopelessness“ und „The Colour In Anything“: Die neuen Alben von Anohni und James Blake beweisen, dass Elektropop eine Seele haben kann.

 Sie mag Gottes Kreaturen: Sängerin Anohni.

Sie mag Gottes Kreaturen: Sängerin Anohni.

Foto: Alice O'Malley

Im Juli 2008 besuchte der damalige amerikanische Präsidentschaftskandidat Barack Obama Berlin. 200 000 Menschen hatten sich aufgemacht, um an der Siegessäule seine Grundsatzrede zur Außenpolitik zu erleben. „Jetzt ist die Zeit, neue Brücken zu bauen“, rief der charismatische Politiker und forderte eine neu belebte transatlantische Partnerschaft. „Wir brauchen Verbündete, die einander zuhören, voneinander lernen und einander vor allem vertrauen.“ Die Menschen jubelten dem Politiker zu wie einem Messias „made in USA“. Eine merkwürdig anmutende Szene.

Auf ihrem Album „Hopelessness“ beschäftigt sich Anohni mit dem Phänomen Obama. Eine gruselig verfremdete Stimme erzählt in tragisch aufgeladenem Litaneiton von überspannten Hoffnungen und zerstörten Träumen. „When you were elected / The world cried for joy / We thought we had empowered / The truth telling envoy“, heißt es zu Beginn des Songs „Obama“. Darauf folgt eine ernüchternde Betrachtung: Exekutionen ohne Prozess, Verfolgung von Whistleblowern à la Edward Snowden.

Anohnis lyrisches Ich zeigt sich enttäuscht und bekennt: Wir haben an dich geglaubt wie Kinder. Auf Geräusche, die wie der verzerrte Jubel einer Menschenmasse anmuten, erwächst eine hochdramatische Soundkulisse mit apokalyptischem Chor und synthetischen Posaunentönen. Ironischerweise endet der Song mit einer ins Helle führenden Coda. Ein Zeichen der Hoffnung auf Hillary Clinton?

Anonhi, die 1971 als Antony Hegarty geboren wurde, setzt sich ebenso leidenschaftlich mit Politik, Geschlechteridentitätsfragen und der bedrohten Zukunft des Planeten Erde auseinander. Für ihr neues Album hat sie ihre musikalischen Ausdrucksmittel neu definiert: in Zusammenarbeit mit Ross Birchard und Daniel Lopatin. Unter den Namen Hudson Mohawke und Oneohtrix Point Never haben sie sich als originelle Produzenten elektronischer Popmusik einen Namen gemacht.

Die Transgender-Künstlerin Anohni hat Kammermusik und Balladen aus der Zeit von Antony & The Johnsons hinter sich gelassen. „Hopelessness“ geht tanzen. „Ich wollte einen überschäumenden und zugleich galvanisierenden Sound haben“, hat Anonhi dem Magazin „Musikexpress“ gesagt. „Dance hat Kraft. Es ist zeitgemäß. Sinfonische Klänge sind nicht sonderlich zeitgemäß.“

Die oftmals verstörend düsteren Visionen – Krieg, Folter, Klimakatastrophe – kleiden die Produzenten in ausgeklügelte Soundstrukturen. Aus dem Computer fließen optimistisch aufgemotzte oder verzweifelt taumelnde Bläsersätze. Es blubbert, fiept, knispelt und schabt. Endzeit in vielerlei Gestalt. Das Tolle dabei: Die Musik bewahrt sich eine Seele.

Anohnis einzigartige Stimme kann alle Höhen und Tiefen menschlicher Empfindung ausdrücken. Stücke wie „Watch Me“ und „I Don't Love You Anymore“ gehen zu Herzen. „Drone Bomb Me“ ist eine elegische, dramatisch sich steigernde Miniatur voller gewalttätiger Bilder: vier Minuten düstere Magie.

Heute das neue Genie, morgen schon vergessen: So läuft das häufig im Popgeschäft. Der britische Musiker James Blake kennt die Spielregeln. Mit seinem 2013 erschienenen Album „Overgrown“ unternahm er nicht weniger, als sich im Alter von gerade einmal 24 Jahren ein Denkmal zu setzen. Eine Platte für die Ewigkeit, darunter machte es Blake nicht.

„I don't want to be a star / But a stone on the shore“, sang er im Titelstück, verglich sich mit Dingen, die bleiben, dem schnellen Vergessen und der Vergänglichkeit ein Schnippchen schlagen. Blake sang das mit intensiver Kopfstimme, sein Falsett war pure Poesie.

Die zehn Songs waren edle elektronische Elegien. Ihre Schönheit entstand aus suggestiven Basskaskaden, filmischen Synthesizer-Soundlandschaften zwischen himmlisch und abgründig. Ebenfalls im Angebot: melancholische, hingetupfte Klavierakzente, die eine oder andere Kuhglocke, losheulende Luftalarmsirenen. Und viel Seele. Er ist ein entfernter Verwandter Anohnis.

Jetzt ist Blakes drittes Album erschienen. „The Colour In Anything“ ist vorerst nur bei Streamingportalen zu hören, am 27. Mai folgt die CD. Blake bleibt auf Meisterschaftskurs, mit 17 Songs und insgesamt 76 Minuten Spielzeit. Der Engländer hat die Stücke überwiegend in den USA aufgenommen, mit freundlicher Unterstützung von Produzentenlegende Rick Rubin, Frank Ocean und Bon Iver.

Der junge Musiker Blake ist der Sohn von James Litherland, dem Gitarristen der Band Colosseum. James Blakes DNA besteht sozusagen aus Musiknoten. Die ersten beiden Alben hat er zu Hause und allein eingespielt. Jetzt sucht er handverlesene und seelenverwandte Kollaborateure.

Das erste Stück, „Radio Silence“, handelt vom Ende einer Liebe, von Verlust und dem Zusammenbruch von Kommunikation. „I can't believe this, you don't wanna see me“, singt Blake zur Eröffnung drei Mal. Und dann: „We lived in love with each other so long.“ Die Elegie wird begleitet von zurückhaltenden Klaviertönen und einem gleichsam tränenerfüllten Hintergrundchorus. Eine Synthesizer-Harmonie evoziert vergangene Glücksmomente. Tempi passati, Gegenwart und Zukunft erscheinen trostlos.

James Blake hat seine Palette erweitert und an seinem Klangbild gearbeitet. Ziel des Verfahrens: Verfeinerung, Verdichtung und Variation. Und bei aller Virtuosität: Gefühlsintensität. Der 27-Jährige dringt mehr als früher auf direktem Weg zum Zuhörer durch. Eine reife Leistung.

Anohni: Hopelessness. Rough Trade/Beggars/Indigo. Am 29. Juni tritt Anohni im Kölner E-Werk auf. James Blake: The Colour In Anything“. Polydor/Universal. Ab Freitag, 27. Mai, als CD erhältlich.

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