Neuer Roman von Leon de Winter Massenmörder mit Skrupeln

Leon de Winters Roman „Geronimo“ über das Schicksal Osama bin Ladens springt vom straffen Trampolin gut recherchierter Fakten in schwindelerregende Fiktion ab. Eine spannende Lektüre.

 Er schreibt die Weltgeschichte um: Leon de Winter.

Er schreibt die Weltgeschichte um: Leon de Winter.

Foto: Marco Okhuizen/

Februar 2011, Männerabend in Virginia. In der Glotze der Superbowl, dazu viel Bier – und Politik. Denn Ex-Elitesoldat Tom Johnson, jetzt CIA, hockt mit alten Kameraden vom Seals Team 6 zusammen. Deren Mission: Rache für 9/11, Zugriff auf Osama bin Laden. Codewort im Erfolgsfall: „Geronimo“. So heißt auch Leon de Winters kühner Roman, der vom straffen Trampolin gut recherchierter Fakten in schwindelerregende Fiktion abspringt.

Tatsächlich ist der Al-Kaida-Boss im pakistanischen Abbottabad aufgespürt worden, doch – so de Winter – hat das Weiße Haus die ursprüngliche Order „Töten oder gefangen nehmen“ ins pure „kill“ umgewandelt. Hier setzt die Spekulation ein: Was, wenn die Spezialkräfte Osama in geheimem Ungehorsam doch nur festnähmen? Aber wie könnte man dann seinen Tod beweisen?

Knapp drei Monate später verkündet Präsident Barack Obama das Ende des Kommandounternehmens „Neptune Spear“ und des Staatsfeinds Nummer eins. Zu Unrecht, wie Tom zu wissen glaubt. Es geht um unerkannte Fluchttunnel, Betäubungsgas und den 16-jährigen Jabbar, der eigentlich John heißt, kein Muslim, sondern Christ ist und plötzlich zum Geheimnisträger wird.

Wie artistisch Leon de Winter mit Realitäten jongliert, zeigte er schon im vorigen Roman „Ein gutes Herz“. Da versöhnte er sich mit seinem langjährigen Gegner, dem später ermordeten Filmemacher Theo van Gogh, dem er im Jenseits eine zweite Chance als rotziger Schutzengel gab.

Diesmal wagt er noch mehr, schreibt einfach die Weltgeschichte um. Zugleich erdet er diese intelligente Luftnummer in plastischen Figuren: Tom, der zuerst durch Terror seine Tochter Sarah, dann im zersetzenden Kummer seine Frau Vera verlor. Und der in Afghanistan das Muslimmädchen Apana mit Bachs Goldberg-Variationen verzaubert und damit zur Zielscheibe der Taliban macht.

De Winter verschwistert die Schönheit der Musik mit den Schrecken des Krieges, erschafft eine fast engelhafte Märtyrerin und ihren rührenden Beschützer. Ein bisschen viel, das alles? Vielleicht schon, und einem schlechteren Autor wäre dieser heftige Flirt mit der Kolportage zum Verhängnis geworden. De Winter hingegen zieht alle fatal verhedderten Schicksalsfäden virtuos durchs verminte Rückblenden-Labyrinth.

Wer als Autor seinen Erzfeinden vergibt, hat auch Probleme, pure Unmenschen zu kreieren. Der im Versteck hausende Osama stößt hier zwar hasserfüllte Racheschwüre gen Westen aus, müht sich aber trotz Viagra vergebens mit drei Frauen und hilft einem Bettlermädchen, das er aus Sicherheitsgründen töten müsste. Ein Massenmörder mit Nöten und Skrupeln.

Umgekehrt hat es dem Autor offenbar einen Höllenspaß gemacht, Obama beim Verfassen seiner pathostriefenden Triumphrede ins Hirn zu blicken und jeden hämisch-sarkastischen Hintergedanken aufzuspießen. Der Präsident als kaltschnäuziger Demagoge.

Ob alles so gewesen sein könnte, wie es dieser Hochseilakt suggeriert, ist letztlich nicht so wichtig. Denn anders als US-Journalist Seymour Hersh will der Niederländer keine neue Wahrheit über „Neptune Spear“ verkünden, sondern die offizielle Version fantasievoll mit Fragezeichen versehen. Dabei glückt ihm ein ungemein spannender Politthriller mit herzzerreißender Schicksalswucht.

Leon de Winter: Geronimo. Roman, aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. Diogenes, 443 S., 24 Euro.

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