Nach Anschlägen und Amoklauf Fernsehen im Krisenmodus

Bonn · Nach den Ereignissen der letzten Tage und Wochen stellt sich die Frage: Brauchen die Öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten einen 24-Stunden-Nachrichtenkanal?

 Jens Riewa dehnte die Berichterstattung zum Amoklauf in München auf 75 Minuten aus.

Jens Riewa dehnte die Berichterstattung zum Amoklauf in München auf 75 Minuten aus.

Foto: Screenshot GA

"Tagesschau-Sprecher" Jens Riewa, sonst eher ein Mann der Nachrichten-Kurzstrecke, ging am vergangenen Freitag in die Verlängerung, dehnte die Berichterstattung wegen des Münchner Amoklaufs auf 75 Minuten aus. Kollege Thomas Roth übernahm und moderierte die "Tagesthemen" bis 0.27 Uhr. Und bis zur Erschöpfung - mehrmals musste der 64-Jährige hinter sich greifen, um sich am Tresen etwas abzustützen.

Seit dem Umbau sieht das ARD-Studio keine Sitzgelegenheiten mehr vor - und offenbar auch keine XXL-Sendezeiten. Im ZDF ließ man noch den "Fall für Zwei" ablaufen, ging dann aber mit dem "heute-journal-spezial" in den Krisenmodus. Klaus Kleber hatte den ZDF-Terrorismusexperten Elmar Theveßen im himmelblauen Studio, Roth befragte den supercoolen Georg Mascolo, der vom "Spiegel"-Chef (bis 2013) zum obersten Terrordeuter der ARD avanciert ist und unerschrocken einen Bogen vom Münchner Olympiaattentat 1972 zu den Schießereien im Olympiacenter am 22. Juli 2016 schlug. Immerhin: Mascolo warnte vor voreiligen Spekulationen. Und spekulierte in Roths Schwitzkasten munter weiter.

News-Minimalismus bei den Öffentlich-rechtlichen Sendern

Exakt eine Woche zuvor - die Nacht des Putschversuchs in der Türkei - hatten es die Öffentlich-Rechtlichen beim Normalprogramm belassen und erst nur ein Meldungs-Schriftband über den Bildschirm geschickt. Für diesen News-Minimalismus gab es Prügel von allen Seiten. Sieben Tage später folgte die mediale Breitseite: Allein 5,1 Millionen Zuschauer sahen Riewas Solo in der ARD (zusammen mit Phoenix und 3sat insgesamt 8,7 Millionen). Vier Millionen verfolgten Klebers Moderation. Auch RTL blieb an der Nachrichtenlage dran und informierte rund drei Millionen Zuschauer. Anchorman Peter Kloeppel, Routinier der 9/11-Berichterstattung, sorgte für profundes Infotainment.

Als am nächsten Morgen der Pulverdampf von den Schüssen in München verzogen und die Nacht der Spekulationen zum Tag größerer Gewissheit mit dem Ritual von Polizeipressekonferenzen, abgefilmten Blumenbergen und entrüsteten Politiker-Statements geronnen war, wurden schon Stimmen lauter, die nach einem öffentlich-rechtlichen 24/7-Programm riefen - 24 Stunden Sendezeit an sieben Tagen.

Ulrich Deppendorf, früherer ARD-Chefredakteur, twitterte bereits nach dem versuchten Militärputsch in der Türkei, "tagesschau24" und "Poenix" müssten "endlich zum 24hNews Channel werden!! Linear, digital und online!!" Am vergangenen Samstag meinte er im Rundfunk, dass dafür mehr Geld in die Hand genommen werden müsse. Kai Gniffke, amtierender Chefredakteur von ARD-aktuell, ruderte bereits etwas zurück. Er sieht "tagesschau24" auf dem richtigen Weg, bezweifelt aber, dass man jeden Tag auch noch um vier Uhr früh senden müsse. Er fordert zudem einen kritischeren Umgang mit der Informationsflut der sozialen Medien. ZDF-Chefredakteur Peter Frey meint, ein 24-Stunden-News-portal wäre unrealistisch und zu teuer.

Es bleibt die Frage nach Inhalten

Die Frage, die sich die Chefredakteure offenbar nicht stellen, ist die nach den Inhalten. Stundenlang bloß vor sich stetig wiederholenden Bildern unklaren Inhalts ins Blaue zu spekulieren, wie am Freitag geschehen, kann nicht der Sinn der Berichterstattung über eine Krisenlage sein. Willkürliche "Schalten" zu Korrespondenten, Experten und Politikern - die allesamt über keine belastbare Faktenlage zur aktuellen Situation verfügen - mag Information suggerieren, verstärkt am Ende aber nur die Unsicherheit. Bei Moderierenden und beim TV-Publikum.

So war Roths stereotype Frage "Wie fühlen Sie sich?" nett gemeint, aber kaum zielführend, und die Frage "Was geht in so einem Menschen vor?" konnte zu jenem frühen Stadium bestenfalls eine Steilvorlage für abenteuerlichste Hypothesen sein. Schwierig wurde es, wenn ungeprüft Material aus den sozialen Medien in den Nachrichtenfluss eingespeist wurde. "Wenn gesicherte Erkenntnisse fehlen und es nichts Neues zu berichten gibt, haben selbst Profis wie Roth, Kleber und Kloeppel keine Chance", schrieb Kurt Sagatz im "Tagesspiegel". Eine Binsenweisheit, die im Strudel der Ereignisse gerne untergeht.

Udo Röbel, früherer Chefredakteur der "Bild"-Zeitung, befürchtet angesichts der Nachrichtenflut eine "Hyperreagibilität" (in der Medizin eine übersteigerte Reaktionsbereitschaft des Organismus) auch in den Medien. Sein Bild: ein von Twitter, Facebook und WhatsApp, von Falschmeldungen und interessengeleiteten Informationen vor sich hergetriebenes Fernsehen. Er zitiert einen Experten: "In München haben Terroristen gesehen, was machbar ist, und es ist zu befürchten, dass wir demnächst bei neuen Anschlägen genau das sehen werden: Attentäter, die schießen und sich selbst in die Luft sprengen. Und Komplizen im Hintergrund, die via Smartphone psychologische Bomben zünden."

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