Interview mit Casey Affleck Casey Affleck: „Meine Rollen sind kein Teil von mir“

Der US-Schauspieler brilliert im Kino gerade in Kenneth Lonergans preisgekröntem Drama „Manchester by the Sea“.

 „Manchester by the Sea“: Casey Affleck als Lee Chandler, der alles verlorenen hat, was er liebte. FOTO: AP

„Manchester by the Sea“: Casey Affleck als Lee Chandler, der alles verlorenen hat, was er liebte. FOTO: AP

Foto: Roadside Attractions and Amazon

„Manchester by the Sea“ ist im Arbeitermilieu angesiedelt, in dem Sie selbst Ihre Kindheit verbracht haben. Hat Ihnen das bei der Entwicklung der Figur geholfen?

Casey Affleck: Stimmt, ich bin in einem Arbeiterviertel in Boston aufgewachsen, aber die Parallelen zwischen meinem Leben und dem Setting des Filmes sind nur oberflächlich. Der Kern der Story und der Charaktere haben eigentlich wenig mit deren proletarischer Herkunft zu tun. In dem Film geht es nicht um ein soziales Milieu, sondern um eine universelle Geschichte, die in dieser spezifischen Umgebung von Kenneth Lonergan auf möglichst glaubwürdige Weise erzählt wird.

Lee Chandler, ihre Figur, ist ein Mann, der seine Gefühle in sich hineinfrisst. Trotzdem fühlt man sich der Figur sehr nahe. Wie haben Sie diese Balance hinbekommen?

Affleck: Ich habe ganz bewusst versucht, nicht an das Publikum zu denken. Auch gute Schauspieler machen oft den Fehler, an eine Szene mit der Frage heranzugehen: Wie kann ich meine Figur dem Publikum verständlich machen? Aber Kenneth Lonergan inszeniert seine Filme immer sehr realistisch und da muss man darauf vertrauen, dass das Publikum die Figur aus sich heraus versteht. Ich bin sowieso der festen Überzeugung, dass das Publikum intelligenter ist, als es die Filmindustrie wahrhaben will.

Warum unterschätzt die Branche ihre Zuschauer?

Affleck: Es ist eine Schande, dass das Kino, das Fernsehen, die Medien immer mehr verblöden, nur weil sie Angst haben, dass die Leute ihre Botschaft nicht verstehen. Viele Filme versuchen die Zuschauer so zu manipulieren, dass sie, egal in welchem Alter sie sind, oder woher sie kommen, in diesem Moment alle nur diese eine Sache fühlen. Ich finde es wichtiger, das Publikum mit Respekt zu behandeln und die Geschichte so zu erzählen, wie man es selbst für richtig hält.

Und wie setzt man einen solchen respektvollen Umgang mit dem Publikum als Schauspieler um?

Affleck: Ich finde es wichtig, dass sich Filmfiguren wie wirkliche Menschen verhalten, ohne dass sie auf Gedeih und Verderb transparent gemacht werden müssen. Denn die Menschen laufen nun einmal im wirklichen Leben nicht transparent durch die Welt, sondern passen im Gegenteil auf, dass sie ihre Gefühle nicht direkt zeigen. Man muss das Publikum nicht irgendwohin führen, damit es an einem bestimmten Ziel ankommt. Wenn man die Figuren mit all ihren Fehlern offenlegt, haben die meisten Menschen ein wirkliches Mitgefühl und finden ganz von selbst den Weg zum Ziel.

Wieviel nehmen Sie von einer Rolle nach dem Dreh mit nach Hause?

Affleck: Ich versuche, es zu vermeiden, dass die Figuren, die ich spiele, ein Teil von mir werden. Es gibt einige Charaktere, bei denen ich wirklich froh war, sie wieder los zu werden. Die Charaktere bleiben bei mir nur in ihrer filmischen Form, wenn ich über die Jahre hinweg an dieses oder jenes Filmprojekt denke, das mich auf eine bestimmte Weise als Schauspieler geformt hat. Ich schaue mir die Filme, die ich gedreht habe, nur einmal an und dann erst wieder frühestens nach zehn Jahren. Aus dieser zeitlichen Distanz heraus kann ich sie klarer sehen und einiges mit mehr Lebenserfahrung besser verstehen.

Lesen Sie, was über Sie und Ihre Filme geschrieben wird?

Affleck: Nur noch selten, in Momenten der Schwäche. Aber früher habe ich sehr gern Filmkritiken gelesen. Wenn es ein wirklich nachdenkliche Analyse des Films ist, hilft eine Kritik, das Gesehene besser zu verstehen. Das ist wie mit einem Gedicht, das einem irgendwie gefällt, aber durch eine gute Literaturanalyse erst an Kraft gewinnt. Filmkritiken sind ein wichtiger Teil des ganzen Diskurses. Aber heute überwiegen leider die Klatschberichte, bösartige Schreibweisen und eine Menge Ignoranz. Deshalb lese ich heute kaum noch, was über meine Filme geschrieben wird. Man weiß nie, wo man da hineingerät.

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