Geograf Nick Middleton "Atlas der Länder, die es nicht gibt"

Der britische Geograf Nick Middleton legt einen schön gestalteten Atlas mit Staaten vor, die aus verschiedenen Gründen nicht international anerkannt sind. Die Gründe dafür sind verschieden.

 Unbekannter Staat: Die „Republik Westsahara“ ist zum Teil von Marokko besetzt; auch der unbesetzte Teil ist international nicht anerkannt. Hier marschieren Saharaoui-Soldaten im Jahre 2008 in Tifariti bei einer Parade, die den Beginn des Unabhängigkeitskampfes 35 Jahre zuvor feiert.

Unbekannter Staat: Die „Republik Westsahara“ ist zum Teil von Marokko besetzt; auch der unbesetzte Teil ist international nicht anerkannt. Hier marschieren Saharaoui-Soldaten im Jahre 2008 in Tifariti bei einer Parade, die den Beginn des Unabhängigkeitskampfes 35 Jahre zuvor feiert.

Foto: picture alliance / dpa

Es gibt Länder, die gibt's gar nicht. Jedenfalls nicht richtig. Weil es sie für den einen oder anderen nicht geben darf. Was auf den ersten Blick aberwitzig klingt, hat oft genug einen ernsten Hintergrund. Etwa in der Republik Sahara, Afrikas letzter Kolonie. Die Republik könnte ein Land sein wie jedes andere. Mit der Hauptstadt El Aaiun, mit 514.000 Einwohnern. Wenn der marokkanische Wall nicht wäre, der das Land zerteilt.

Ein Schutzwall, sagen die einen, der die Kontrolle über Bodenschätze (wie nahezu die Hälfte des weltweiten Phosphoraufkommens) und Erdöl sowie die reichen Fischgründe vor der Küste sichert. Eine Schandmauer, sagen die anderen, die seit der Gründung 1976 für die Unabhängigkeit ihres Landes kämpfen, ihr Leben seit 40 Jahren jedoch in Slums im benachbarten Algerien fristen.

Das versprochene Referendum zur Unabhängigkeit hat die UN nie durchgeführt. Das Problem: Wer ist abstimmungsberechtigt, wenn einer den anderen für einen Ausländer hält? Für die „Saharauis“ gelten die marokkanischen Siedler als Eindringlinge. Für die Marokkaner sind inzwischen die Saharauis die eigentlichen Ausländer.

„Atlas der Länder, die es nicht gibt“

Diese und andere Geschichten über 50 nicht anerkannte und oft auch unbekannte Staaten erzählt der britische Geograf Nick Middleton in seinem „Atlas der Länder, die es nicht gibt“ (nicht zu verwechseln mit Dennis Gastmanns ähnlich betitelter Reisebeschreibung „Atlas der unentdeckten Länder“, die zurzeit ebenfalls in den Buchhandlungen liegt). Middletons Atlas ist ein schön ausgestattetes Buch, das Bibliophile begeistern dürfte, die auch in Zeiten von Navigationsgeräten die Nase gerne mal in Karten stecken.

Es sei aber gewarnt, dass es sich nicht um einen reinen Atlas handelt, sondern um ein mit Detailfreude gestaltetes Lesebuch. Jeder der aus verschiedensten Gründen fragwürdigen Staaten wird mit einer blutroten Doppelseite eingeführt, in der ein Guckloch, geformt wie der Umriss des Landes, den Blick auf die dahinter liegende Karte freigibt. Eine hübsche Spielerei.

Aber wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass Gebilde wie die italienische Abspaltung Seborga an der Blumenriviera, die Tempelritter-Festung Pontinha auf Madeira, aber auch das nach Unabhängigkeit von Dänemark strebende Grönland sich in einem derart indifferenten Status wiederfinden? Dieser Frage geht Middleton, der in Cambridge lehrt, gleich zu Beginn des Buches nach.

Die Aufteilung der Welt unter den Kolonialmächten und die bis nach dem Zweiten Weltkrieg dauernde Gegenbewegung der Entkolonialisierung sind es, deren Spätfolgen bis heute auf nahezu allen Kontinenten dafür sorgen, dass vermeintlich klare Grenzen immer wieder in Frage gestellt werden. „Länder kommen und gehen“, kommentiert Middleton lakonisch die sich verändernde Weltkarte, auf der gegen Ende des 20. Jahrhunderts allein durch den Zerfall der UdSSR 15 neue Staaten auftauchten. Deutschland vereint, die Tschechoslowakei geteilt, Jugoslawien filetiert. Die Liste lässt sich fortsetzen.

„Die Grundidee ist klar, alles andere nicht“

Aber nicht nur die Weltkarte ist in Bewegung, auch der Staatsbegriff ist weniger fix als wir gerne glauben. „Die Grundidee ist klar, alles andere nicht“, beantwortet der Autor und Filmemacher Middleton die Frage, was überhaupt ein Land ausmache. Selbst die Krücke, sich einfach auf alle „echten“ Länder in der UN-Generalversammlung zu stützen, führt nicht ans Ziel, warnt er. Sonderfälle wie Israel, das von mehr als 30 Mitgliedsstaaten nicht anerkannt ist, oder die UN-Vollmitgliedschaft ist kein Indiz für Staatlichkeit – wie im Falle von Taiwan, das zwar eine demokratisch legitimierte Regierung hat, von China aber nach wie vor als 23. Provinz des Landes betrachtet wird.

Dabei erfüllt Taiwan alle Kriterien, die 1933 im Abkommen von Montevideo als Staatsdefinition von einer internationalen Konferenz festgehalten wurden: auf Dauer dort lebende Bevölkerung; festgelegtes Territorium; eine Regierung und Beziehungen zu anderen Staaten. Aber die können eben auch recht eingleisig verlaufen, wie im Falle von Nordzypern, das einzig von der Türkei anerkannt wird.

Zwei Dinge aber haben laut Middleton alle Länder gemein, die um ihre Anerkennung ringen: territoriale Ansprüche und ein robustes Selbstvertrauen. Wie sonst hätte „Prinzregent“ Michael Bates die Nachfolge seines Vaters Roy antreten können, der 1967 auf einer Stahlbetonplattform den Staat „Sealand“ gründete. Was als Piratensender für Popmusik begann, fand Eingang in die Akten der britischen Justiz, als der Prinzregent seine territorialen Interessen mit der Waffe gegen ein nahendes Boot der Küstenwache verteidigte. Die gute Nachricht: Die Thronfolge im 27 Einwohner zählenden Sealand ist gesichert, seitdem 2014 Prinz Freddy das Licht seiner beengten Welt erblickte.

Middletons Buch ist aber weit mehr als eine Anekdotensammlung über skurrile Gestalten und ihre alternativen Staatsgebilde von der dänischen Kommune Kristiania bis hin zum australischen Atlantium, das die herkömmliche Staatsidee in Frage stellt. In globalisierten Zeiten, so glauben die Gründer, sei Territorialhoheit bedeutungslos. Allein die Menschen machten den Staat. Und die seien so mobil wie nie zuvor. Entscheidend für ihre Staatsangehörigkeit sei nur ihr freier Wille.

Keine Pässe, völlige Bewegungsfreiheit, das 1981 gegründete interkulturelle Land ist überaus liberal. Latein ist die Landessprache, weil sie mit keinem existierenden Land in Verbindung gebracht werden kann. Und die Staatsgehörigen von Atlantium leben überall. Wahre Weltbürger eben. Sieht so die Zukunft aus in einer zerbrechlichen Welt mit zahlreichen Konflikten? Wer weiß. Mit Middletons Atlas über diese und andere Utopien zu grübeln, hat jedenfalls seinen Reiz.

Nick Middleton: Atlas der Länder, die es nicht gibt. Ein Kompendium über fünfzig nicht anerkannte und weithin unbekannte Staaten. Quadriga-Verlag, 240 S., 32 Euro

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