Zeichen verlorener Unschuld

Das Bonner Schauspiel setzt seine Werkstatt-Reihe "Reality Bit(e)s" fort: Mit Anja Brunsbachs Stück "Remembering America"

Bonn. Nein, die USA existieren nicht nur in der Erinnerung, sondern sind ein konkreter, exemplarischer Konfliktschauplatz, auch wenn die drei grauen, lemurenartigen Wesen in "Remembering America" fast glauben machen könnten, dass all die hohen Werte der "Bill of Rights" aus dem aufgeklärten 18. Jahrhundert am Beginn des 21. nur noch Makulatur seien.

Die junge Regisseurin Anja Brunsbach wirft mit vier Tänzern des Choreographischen Theaters ein pessimistisches Schlaglicht auf die alten Ideale der neuen Welt. Da hockt am Anfang ein junger Mann (Ronaldo Navarro, der leider nur als Schauspieler - und guter Sprecher - zum Zuge kommt, obwohl er als Tänzer viel mehr zu bieten hätte) auf der Raum füllenden Plastikfolie mit Stars and Stripes, von der das Rot langsam abblättert und sich wie vertrocknetes Blut an allen Körpern festsetzt.

Gesine Kuhns Bühnenbild mit den wie Körpernegative aus dem schwarzen Hintergrund geschnittenen leeren, subtil beleuchteten Schemen ermöglicht starke Bilder. Ohren betäubender Lärm wie von Flugzeugmotoren weckt Erinnerungen an den 11. September. Wie viel schreckliche Legenden verträgt ein zur Nation erhobenes, vielleicht nur literarisches Konstrukt?

Aus dem Off tönen staatsphilosophische Texte, die auf das hinauslaufen, was Thomas Paine schon 1776, im Jahr der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, als "Common Sense" formuliert hat: "Regierung ist, gleich Kleidung, das Zeichen verlorener Unschuld".

Diese Zeichen verkörpern in den Einheitskostümen von Uta Heiseke als düstere Masken von naturphilosophischer Schuld und Unschuld Annabel Cuny (Glück), Fabrice Jucquois (Freiheit) und Ricardo Diaz (Gleichheit) in einer sorgfältig gearbeiteten, gestisch differenzierten Choreographie, bei der sie eine schwierige Balance halten müssen zwischen individuellem Ausdruck und verallgemeinernder Allegorie.

Der intellektuelle Anspruch dieser kleinen, spontan und mit viel Herzblut entwickelten Produktion in der Werkstattreihe "Reality Bit(e)s" mag etwas zu hoch angesetzt sein. Dass politische Kritik sich auch sehr sinnlich artikulieren kann, beweist sie jedenfalls.

Dass ihre durchaus nicht eindimensionale Botschaft dem alten Europa was zu sagen hat, bewies der Premierenbeifall in der ausverkauften Werkstatt des Theaters Bonn. Das bemüht sich mit solchen, quasi am Normalbetrieb vorbei lancierten Works in Progress natürlich um das junge studentische Publikum, das sich allmählich anstecken lässt vom Elan der neuen Theatermacher.

Johann Kresnik, der Chef des Bonner Choreographischen Theaters, und viele Mitglieder seiner Compagnie kämpften am selben Abend in Bremen um die biblisch nackten "Zehn Gebote". Wie viel diese mit den modernen Menschenrechten zu tun haben, zeigten erfrischend unspektakulär seine in Bonn auftretenden Tänzer.

Die im Spielplan des Theaters Bonn angekündigte Aufführung am 29. Januar muss wegen kurzfristiger dispositioneller Komplikationen ausfallen. Weitere Aufführungen im März sind geplant.

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