Wilma und Wendla auf Wolke Neun in der Brotfabrik

Zwischen Pubertät und Pensionsgrenze: Volker Maria Engel betrachtet Wedekinds "Frühlings Erwachen" aus zwei Perspektiven

Bonn. Was ist passiert damals mit Moe, Mel, Wendy, Martha und all den anderen Jugendlichen? In der Regie von Volker Maria Engel haben Studenten der Schauspielschule Siegburg in der Werkstatt der Brotfabrik Frank Wedekinds Kindertragödie "Frühlings Erwachen" vom Beginn des 20. Jahrhunderts nach vorn geholt in die siebziger Jahre im Bible Belt der USA, wo man bis heute gegen Darwin an der biblischen Schöpfungslehre festhält.

Ausstatterin Sandra Van Slooten hat ihnen den weiten Wolkenhimmel mit zwei großen Bildern im Hintergrund geöffnet und mit ein paar schlichten Holzwürfeln die dörfliche Enge markiert. Mit weißen Masken und in weißer Unterwäsche stürmt das junge Ensemble die Bühne und verwandelt sich in die traumverlorenen Figuren, die sich zwischen Schule und Leben selbst abhanden kamen.

Die jungen Darsteller entwickeln sprachlich und körperlich präzise, psychologisch sensibel und spielerisch überzeugend all die pubertätsverwirrten Figuren, deren Fragen und Sehnsüchte an der Erwachsenenwelt abprallen.

Viel schauspielerischen Schliff verdanken sie dabei Angelika Fornell, die vor mehr als einem Jahrzehnt in den Kammerspielen bereits in Manfred Beilharz' Inszenierung von "Frühlings Erwachen" die Frau Bergmann verkörperte und jetzt mit ihrer Professionalität das ganze Ensemble feinfühlig stützt, ohne es zu dominieren.

Nur zwei Stunden brauchte die fortgeschrittene Generation des neu gegründeten "Uhu-Theaters" der Brotfabrik ("Uhu" bedeutet "unter Hundert") für "Frühlings Erwachen Reloaded". Was wäre, wenn die Teenager von damals ihre Pubertätsnöte über die Pensionsgrenze hinaus überlebt hätten?

Den zweiten Frühling auf Wolke Neun hält Regisseur Engel glücklicherweise auf Distanz, lässt das lebenserfahrene Ensemble frei mit dem literarischen Material und den individuellen Erinnerungsspuren spielen, jedoch szenisch nie ins Private abgleiten.

Wilma/Wendla hat ihre ehemaligen Mitschüler nach Jahrzehnten zum Klassentreffen eingeladen. Sandra Van Slooten hat dafür die Bühne mit biologischen Schautafeln, einem menschlichen Skelett und Klassenzimmerstuhlreihen perfekt hergerichtet.

Das ganze dreizehnköpfige Ensemble (fast alle sind Bühnenneulinge) mixt spielerisch eigenwillige Farben ins Kaleidoskop der am Scheitern vorbeigeschrammten Existenzen. "Wir können die Jugend bedauern, wie sie ihre Bangigkeit für Idealismus hält, und das Alter, wie ihm vor stoischer Überlegenheit das Herz brechen will", hatte der tote Moritz gesagt. Das gelungene Theater-Experiment hat es über die Generationen hinweg bestätigt.

"Frühlings Erwachen Reloaded" steht am 13. Mai wieder auf dem Programm der Brotfabrik.

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