Musical-Premiere: „Anatevka“ an der Bonner Oper Wie aus dem Bilderbuch

Bonn · Das Musical „Anatevka“ feiert an der Bonner Oper mit Gerhard Ernst in der Hauptrolle eine umjubelte Premiere. Regisseur Karl Absenger erzählt die Geschichte des jüdischen Milchmanns und seiner fünf Töchter sehr nah am Original.

 Harte Schale, weicher Kern: Milchmann Tevje (Gerhard Ernst) mit seinen drei ältesten Töchtern.

Harte Schale, weicher Kern: Milchmann Tevje (Gerhard Ernst) mit seinen drei ältesten Töchtern.

Foto: Thilo Beu

Eine zu Herzen gehende Liebesgeschichte und ein Happy End sind zwei wesentliche Zutaten für den Erfolg eines Musicals. „Anatevka“ von Jerry Bock, Joseph Stein und Sheldon Harnick bietet weder das eine noch das andere. Statt dessen ostjüdisches Arme-Leute-Milieu, Pogromstimmung, Flucht und Vertreibung. Trotzdem ist „The Fiddler on the Roof“, wie das Stück im Original heißt, seit der Uraufführung am New Yorker Broadway vor 52 Jahren ein Publikumsrenner. Auch an der Bonner Oper, wo „Anatevka“ am Sonntag in einer Neuinszenierung von Karl Absenger Premiere feierte, war das Haus ausverkauft. Das Publikum wurde nicht enttäuscht, wie der begeisterte, stehend dargebrachte Applaus zeigte.

Die Hauptfigur Tevje, der als einfacher Milchmann in dem ukrainischen Schtetl Anatevka eine Frau und fünf Töchter zu ernähren hat, macht zu einem großen Teil die ungebrochene Anziehungskraft des Musicals aus. Ihn muss man einfach lieben. Er ist jemand, der sich mit seinem Schicksal irgendwie arrangiert hat, seine Armut mit Fassung trägt – und mit Humor. Der Mahnung, man solle den Mammon meiden, denn er sei der Fluch der Welt, entgegnet der gottesfürchtige Milchmann spitzfindig: „So schlage mich mit deinem Fluch, o Herr, und lass mich nie davon genesen.“

Der Wiener Gerhard Ernst, der die Rolle 1978 in Krefeld mit 32 Jahren erstmals verkörperte, ist – auch gesanglich – eine perfekte Besetzung. Seine „Andererseits“-Selbstgespräche, in denen er philosophisch das Für und Wider von Argumenten abwägt, bringt der schwergewichtige Schauspieler göttlich herüber. Ernsts Bassstimme ist beweglich genug, viel Ironie mitschwingen zu lassen. Er zeigt, wie sich dieser Tevje eigentlich ganz gut durchs Leben laviert, bis die ersten drei seiner Töchter ins heiratsfähige Alter kommen. Seine älteste Tochter Tzeitel (Sarah Laminger) hat er dem wohlhabenden Metzger Lazar Wolf (Martin Tzonev) versprochen, die aber entscheidet sich trotzdem für den armen Schneider Mottel (Christian Georg). Die zweite, Hodel (Maria Ladurner), verliebt sich, sehr zum Verdruss Tevjes, in den russischen Revolutionär Perchik (Dennis Laubenthal). Da lässt er noch Milde walten. Doch dass die dritte, seine Lieblingstochter Chava (Lisenka Kirkcaldy), den nichtjüdischen Russen Fedja (Jeremias Koschorz) ehelichen will, geht ihm zu weit. Hartherzig verstößt er sie.

Zwar spielt die Handlung im Jahre 1905, doch die Welt scheint seither nicht viel aufgeklärter zu sein. Für Regisseur Absenger ist dies aber kein Anlass, naheliegende Parallelen zu unterstreichen. Er entscheidet sich für eine sehr naturalistische Ausdeutung, die Männer tragen Kopfbedeckung, Gebetsschals und lange Bärte, die Frauen Kopftuch und grobe Kleider, die Bühne besteht aus einer rustikalen Bretterarchitektur mit einem ukrainischen Birkenwald im Hintergrund – Ausstatterin Karin Fritz hat alles so entworfen, wie man sich Anatevka halt vorstellt.

Die Produktion lebt von den Mitwirkenden, die mit einem Riesenengagement bei der Sache sind. Anjara I. Bartz ist Tevjes Gattin Golde, die den Part des nervigen Gegenpols zu ihrem Ehemann unterstreicht, im Duett „Ist es Liebe?“ aber auch zu intimeren Gefühlen fähig ist. Auch die kleinen Rollen sind gut besetzt: Stefan Viering überzeugt als leutselig scheinender, aber gnadenlos die Vertreibung der Juden aus Anatevka vorantreibender Wachtmeister, Michael Seeboth als Motschach.

Großartig auch Barbara Teuber als Goldes verstorbene Großmutter, die in Tevjes Traumerzählung erscheint, und mit ihr ein ganzes Heer von Tänzern, die den Traum als schrille, gespenstische Revue vorüberziehen lassen. Wie überhaupt die von Vladimir Snizek einstudierten Choreografien, darunter der berühmte Flaschentanz, der Aufführung eine besondere Würze geben.

Den bereits am Anfang wirkungsvoll im Zuschauerraum auftretenden Chor hat Marco Medved vorbereitet. Das Beethoven Orchester spielte unter der Leitung von Stephan Zilias zärtlich und melancholisch, oft auch voller Leidenschaft und mit schönen Soli, vor allem der Geige, die dem „Fiddler“ mit der roten Mütze auf der Bühne ihre klagende Stimme lieh.

Termine: 20., 27. März, 13., 30. April, 15., 22. Mai, 3., 12., 15., 19. und 22. Juni. Karten in den Bonnticket-Shops der GA-Zweigstellen.

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