Aussage über Bonner Publikum Warum Nike Wagner im Unrecht ist

Bonn · „Der Bonner will es gern kuschelig“, beklagt Beethovenfest-Intendantin. Doch wie konservativ ist das Bonner Publikum wirklich? Eine Entgegnung auf ihre Kritik.

Im Jahre 1966 brachte das Frankfurter Theater am Turm ein Stück heraus, das Geschichte schrieb. Der Titel: „Publikumsbeschimpfung“. In seinem Stück drohte der junge Peter Handke dem Theaterpublikum gleich zu Beginn mit den Zeilen: „Sie werden kein Schauspiel sehen. Ihre Schaulust wird nicht befriedigt werden. Sie werden kein Spiel sehen. Hier wird nicht gespielt werden.“ Der Regisseur Claus Peymann nannte Handkes „Sprechstück“ einen „Aufstand gegen das Bestehende“. Der Skandal war programmiert.

Nike Wagner verhält sich zu ihrem Publikum in ganz ähnlicher Weise, wie der knapp drei Jahre ältere Handke es ihr vor mehr als fünfzig Jahren vormachte. Wie berichtet, beschrieb die Intendantin des Beethovenfests in einem Interview, das sie dem Bayerischen Rundfunk (BR) nach ihrem angekündigten Rückzug im nächsten Jahr gab, das hiesige Publikum mit folgenden Worten: „Der Bonner will es gern altmodisch, romantisch, kuschelig schön haben, wenn er in ein Klassikkonzert geht.“

Und: „Der Bonner will Starrummel, Big Names, Mainstream-Programme. Es fehlt mir eine Aufgeschlossenheit, eine Neugier, eine Öffnung nach vorne. So nett die Rheinländer im Allgemeinen sind: Auch Bonn muss im 21. Jahrhundert ankommen.“ Wie Handke versucht auch sie in ihren Programmen den Aufstand gegen das Bestehende. Und auch sie wählt die Strategie der Verweigerung nach dem Motto: „Sie werden keine neunte Sinfonie hören!“ Tatsächlich ist Beethovens vielleicht populärste Sinfonie seit Wagner 2014 die Leitung des Beethovenfests übernahm, nie mehr live erklungen.

Alles andere als Pflicht

Beethovens Musik, die im Festival durchaus viel gespielt wird, ist für die Intendantin in den repräsentativen Eröffnungs- oder Abschlusskonzerten alles andere als Pflicht. Im vergangenen Jahr spielte das ORF Radio-Symphonieorchester Wien zum Abschluss neben Bruckners unvollendeter neunter Sinfonie Morton Feldmans rätselhaftes Spätwerk „Coptic Light“, leise, minimalistisch-meditative Musik, die den Riesenorchesterapparat, die sie produziert, ad absurdum führt. Das gefiel nicht jedem Konzertbesucher.

Doch ist das Bonner Publikum deshalb wirklich so konservativ, wie Wagner meint, oder gibt es für die fehlende Akzeptanz ihrer Programme und für die – gegen den in der Festivalszene zu beobachtenden Trend – rückläufigen Auslastungszahlen andere Gründe? Tatsächlich hat Bonn durchaus eine Tradition als ein Ort für neue Musik. Während des Beethovenfests zum 200. Geburtstag 1970 gab es spektakuläre Uraufführungen von Karlheinz Stockhausen, Yannis Xenakis und Mauricio Kagel, bis in die 1980er Jahre gab es die von Josef Anton Riedl geleiteten „Tage der Neuen Musik“.

Selbst heute ist die neue Musik in der Stadt durchaus präsent. Opernintendant Bernhard Helmich hat zuletzt mit Jonathan Doves „Marx in London“ bewiesen, dass sich neue Musik und Publikumsakzeptanz nicht widersprechen müssen. Auch Bonns Generalmusikdirektor Dirk Kaftan fährt einen Kurs, der sich nicht allein am klassisch-romantischen Repertoire orientiert, sondern auf Neues setzt, inhaltlich, formal und in der Präsentation. Auf der einen Seite kollaboriert er mit Kölschrockern wie Brings, auf der anderen Seite setzt er aber auch auf kompromisslose Neutöner wie den 1975 geborenen tschechischen Komponisten Miroslav Srnka.

Im vergangenen April hatten Kaftan und Srnka mit dem Beethoven Orchester ein Programm mit aktueller Musik erarbeitet, das im BaseCamp vor ausverkauftem Haus für eine Riesenbegeisterung beim rheinischen Publikum sorgte. Von wegen „altmodisch, romantisch und kuschelig schön“. Vielleicht setzt Nike Wagner einfach nicht auf die richtige Strategie, ihr Publikum für das 21. Jahrhundert zu gewinnen.

Ankommen im 21. Jahrhundert

Eine andere Frage ist: Sind ihre Programme tatsächlich so zeitgenössisch, wie Wagner vorgibt? Inhaltliches Herzstück ihrer Intendanz sind die Auftragskompositionen an Hugues Dufourt, Salvatore Sciarrino, Vladimir Tarnopolski, Bernhard Lang und Enno Poppe, die sich in ihren Neukompositionen mit jeweils einem Werk Beethovens auseinandersetzen. Dufourt und Sciarrino sind längst jenseits der 70 und ihre Werke ästhetisch eher Kinder des 20. Jahrhunderts.

Tarnopolski und Lang sind über 60 Jahre alt, Enno Poppe, der 2020 zum Zeitpunkt der Uraufführung 50 Jahre alt sein wird, ist in dieser Reihe der Junior. Frauen wie Olga Neuwirth, Isabel Mundry, Unsuk Chin oder Rebecca Saunders fehlen hier ebenso wie die jüngere Generation der Komponisten, die Talente wie Johannes Maria Staud, Gordon Kampe, Ina Meredi Arakelian, Miroslav Srnka und viele andere hervorgebracht hat. Srnka wird übrigens im Jubiläumsjahr beim Kölner Gürzenich-Orchester seine Beethoven-Kompetenz unter Beweis stellen.

Vielleicht werden im nächsten Jahr, wenn alle Kompositionen zu Beethovens 250. Geburtstag noch einmal beim Beethovenfest erklingen, einige kritische Geister fragen: Wann wird das Festival endlich im 21. Jahrhundert ankommen? Und dabei dann weniger das Publikum als die Intendanz im Blick haben.

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