Goethe-Premiere in der Werkstatt Oh, ihr Menschen

Bonn · Die Premiere von Goethes „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ in der Werkstatt ist gelungen. Auf der Bühne entfaltet sich ein grandios modernisierter Klassiker.

 Sehnsucht nach Stabilität: Szene aus Luise Voigts Inszenierung.

Sehnsucht nach Stabilität: Szene aus Luise Voigts Inszenierung.

Foto: Thilo Beu

Das unheilvolle Dröhnen des Krieges ist allgegenwärtig. Ein dunkles Pulsieren nah und fern. Gedämpfte Schüsse zerreißen die Stille, weit geöffnete Augen und angespannte Gesichter folgen dem bedrohlichen Klang der Zerstörung. Es ist eine bedrückende Szenerie, in welche die Premiere von Goethes „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ versetzt. Eine Szenerie, die von Angst, Unsicherheit und der Sehnsucht nach Stabilität geprägt ist.

Äußerst eigenwillig hat Regisseurin Luise Voigt die Novellensammlung in der Werkstatt inszeniert. Ein flaches, rechteckiges Becken teilt die Bühne in zwei Hälften. Wasserreflexionen tanzen über die Wände, die mal in gleißendes Licht getaucht sind, mal in völliger Dunkelheit liegen. Es gibt keine bunten Farben, nur graue Schattierungen in dieser präsentierten Welt des Jahres 1793, in dem sich die Kämpfe der Französischen Revolution nach Deutschland verlagerten.

Kühl und distanziert wirkt das Schauspiel zu Anfang, ein fragiler Selbstschutz vor dem Grauen des Kriegs: Die Familie der Baronesse von C. muss vor den französischen Truppen aus ihrem rheinischen Gut fliehen. In anmutigen, fließenden Bewegungen schreitet das Ensemble zunächst über die Bühne. Doch je länger die Belagerung andauert, je länger man sich auf der Flucht befindet, desto stärker bröckelt die Fassade, und die gutbürgerliche Kultur der Gesellschaft geht unaufhaltsam verloren. Die anfängliche Distanz zum Publikum wird jäh überschritten, als sich die Wut im Streit zwischen Vetter Karl (Daniel Breitfelder) und dem Geheimrat (Bernd Braun) mit voller Wucht entfaltet. Die Körper zittern vor Anspannung, Schweiß steht auf der Stirn, die Gesichter sind verzerrt.

„Oh, ihr Menschen“, entrüstet sich die Baronesse von C. (Birte Schrein) angesichts dieser Konfrontation mit funkelnden Augen. „Wird die Not, die euch unter ein Dach, in eine enge Hütte zusammendrängt, euch nicht duldsam gegeneinander machen?“ Die Familie wird zur zerbrechlichen Gemeinschaft, die den respektvollen Umgang miteinander durch das Erzählen von Geschichten zu retten versucht.

So schwelgen die ungleichen Protagonisten prompt in Märchen und Erinnerungen und schaffen sich eine trügerische Illusion gegen die bedrohlich ansteigende Geräuschkulisse der Französischen Revolution.

Regisseurin Voigt bricht meisterhaft mit konventionellen Sehgewohnheiten. Neben der intensiven Darbietung des Ensembles stehen Lothar Krügers brillantes Spiel mit Licht und Schatten sowie die musikalische Arbeit von Björn Deigner im Zentrum der Aufführung. Niemals ist es wirklich still auf der Bühne, niemals können Schauspieler oder Publikum die akustisch inszenierte Belagerung außerhalb des Versteckes gänzlich ausblenden. Jeder Kanonenschuss, jedes Gewehrfeuer wurde präzise von Deigner arrangiert. Dabei stehen scharfe Perkussionen im Kontrast zu sanften Synthesizern, die gemeinsam mit den Wasserspiegelungen und warmen Lichtakzenten die poetische Realitätsflucht der Protagonisten darstellen sollen.

Auf der Bühne der Werkstatt entfaltet sich an diesem Abend ein grandios modernisierter Goethe, dessen moralischer Appell an Zusammenhalt und Gemeinschaft wohl kaum von größerer Aktualität sein könnte. Ein bedrückendes wie faszinierendes Spiel, dessen unheilvolle Akustik noch lange nachklingen soll.

Nächste Aufführungen in der Werkstatt: 29. November; 2., 16., 29. Dezember. Karten gibt es in den Bonnticket-Shops der GA-Zweigstellen.

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