Premiere von "Drei Schwestern" in den Kammerspielen Nach Bad Godesberg!

Bad Godesberg · Martin Nimz inszeniert Tschechows „Drei Schwestern“ in den Kammerspielen. Er bietet intimes Kammerspiel und poetische Tschechow-Tupfer, Disco und Maskenspiel, Projektionen und Aktualisierungen, Gezappel und Geschrei, Spannung und Spaßtheater.

 Schwestern und Schwägerin: (von links) Johanna Falckner, Lydia Stäubli, Mareike Hein und Maike Jüttendonk.

Schwestern und Schwägerin: (von links) Johanna Falckner, Lydia Stäubli, Mareike Hein und Maike Jüttendonk.

Der Theaterregisseur Martin Nimz bringt Tschechow zum Tanzen. Die Kammerspiele Bad Godesberg verwandelt Nimz in einer Szene in eine Disco. Anton Tschechows „Drei Schwestern“ bewegen sich als Teil einer Tanzgruppe zu dem 1976er Song „Disco Inferno“ der Band The Trammps: „Burn baby burn, disco inferno“. Den Twist wagen sie auch (Choreografie: Johannes Brüssau). Queen meldet sich kurz mit „I Want To Break Free“, und die Inszenierung erlaubt eine Wiederbegegnung mit Procol Harums „A Whiter Shade Of Pale“. Schön.

In den Kammerspielen erfährt das 1901 erstmals aufgeführte Werk des russischen Dramatikers eine Annäherung an die Gegenwart, Flüchtlingskrise inklusive. Martin Nimz und sein großes Ensemble bieten keine archetypischen Tschechow-Melancholiker in Cremeweiß auf, die sehnend und tief empfindend im Hier und Jetzt gefangen sind: verzweifelte Grenzgänger zwischen den Zeiten der Vergangenheit (Traumstadt Moskau), aus der sie sich nicht lösen können, und der verklärten Zukunft (Arbeiten), vor der sie jedoch die Augen verschließen. Die letzten müden Zuckungen der deklassierten Aristokratie, die Tschechow darstellte, ihre hochfahrende Naivität, ihre luxuriöse Melancholie, Weltfremdheit und Gebrochenheit übersetzt Martin Nimz in ein szenisches Patchwork. Er vertraut dabei auf die zupackende Übertragung von Thomas Brasch.

Für jeden Zuschauer hat der Regisseur etwas im Angebot: Er bietet intimes Kammerspiel und poetische Tschechow-Tupfer, Disco und Maskenspiel, Projektionen und Aktualisierungen, Gezappel und Geschrei, Spannung und Spaßtheater. Das ganze Programm zwischen unwiderstehlich und unerträglich.

Sebastian Hannak (Bühne) hat den großen Saal im Haus der Prosorows gestaltet, der Raum hat die Form eines edlen, perspektivisch ins Unendliche verlängerten Gewölbes mit vielen Möglichkeiten für Auftritte und Abgänge. Eine Jukebox steht im Raum, die immer wieder in Betrieb genommen wird. Von Beginn an ist Leben auf der Bühne. Die Schwestern Olga (Lydia Stäubli), Mascha (Mareike Hein) und Irina (Maike Jüttendonk) entfachen viel Wirbel. In ihrer Gesellschaft: der greinende, stotternde, nah am Wasser gebaute Bruder Andrej Sergejewitsch Prosorow (Daniel Breitfelder), seine zukünftige, strenge und strukturierte Frau Irina (Johanna Falckner) sowie die originell dickköpfige Kinderfrau Anfissa (Barbara Teuber).

Der Herrenkreis setzt sich zusammen aus Maschas Mann, dem wachsweichen Kulygin (Sören Wunderlich); dem philosophisch und fraueneroberungstechnisch versierten Werschinin (Benjamin Grüter als Maschas Lover); dem bissigen Soljony (Manuel Zschunke) und dem jovialen Tschebutykin (Wolfgang Rüter). Benjamin Berger verkörpert Baron Tusenbach, der mehr als drei Stunden idealistisch schwadronierend davon träumt, endlich Teil der arbeitenden Klasse und Irinas Ehemann zu werden. Bevor es dazu kommt, stirbt er im Duell mit Soljony. Tschechow kannte kein Mitleid.

Nimz arrangiert eine große Tischgesellschaft, aber auch intime, raffiniert beleuchtete (Sirko Lamprecht) Paarkonstellationen mit Tschebutykin und Prosorow, Mascha und Werschinin, Tusenbach und Irina. Verzweiflungsposen wechseln mit Verführungsversuchen. Maike Jüttendonk zieht allein eine zu Herzen gehende Lebensbilanz, ihre Energie erlahmt wie die der vielen Brummkreisel, die sie in Bewegung bringt. Intensität gewinnt auch der Austausch mit den Schwestern, Mareike Heins lebensgieriger Mascha und Lydia Stäublis selbsterdrückend braver Olga. Hier werden Menschen fassbar, die daran leiden, dass ihnen das Leben Rollen zumutet, die sie nicht spielen wollen, und die von Rollen träumen, die sie nie spielen werden. Wohlfeil dagegen das Bild, in dem die Frauen zappelnd, wie unter Strom, Seelenqualen erfahrbar machen.

Was auch Verdruss bereitet: die Darstellung von Leere, Langeweile und Überdruss. Sie teilt sich dem Zuschauer mitunter körperlich mit; das ist nicht als Kompliment gemeint. Was zu erklären wäre: ein Tanz der Maskierten. Sie tragen die Züge großer deutscher Staatsmänner, darunter Adenauer, Erhard, Brandt und Schmidt. Eine Hommage an die ehemalige Bundeshauptstadt Bonn? Was wohl unvermeidlich war: die Bebilderung der Flüchtlingskrise. In Tschechows Stück ist von einem Brand die Rede, der Menschen obdachlos macht.

In den Kammerspielen kommen Opfer einer viel größeren Katastrophe ins Bild, auf der Bühne und durch suggestive Projektionen. Barbara Teubers Anfissa, die ihren Platz im Hause Prosorow durch die Ankömmlinge bedroht sieht, ruft: „Wer soll denn das bezahlen? Was das kostet!“

Zerstörte Architektur, vermutlich Aleppo, ist zu sehen, Steine werfende Menschen in einem Lager, Tränengaseinsatz (Video: Thorsten Hallscheidt). Dass sich Tschechows Welt mit der Gegenwart 2016 plausibel vernetzen lässt, bleibt allerdings reine Behauptung. Was hat die russische Provinz um 1900 mit Syrien heute zu tun?

Viel Filmmaterial widmet sich auch Gevatter Rhein und Bad Godesberg. Der Ort als Symbol, nur als welches? Als Spiegelbild von Tschechows Gouvernementsstadt, aus der es kein Entrinnen gibt? Oder als Sehnsuchtsort? Statt „Nach Moskau“ nun also: Nach Bad Godesberg!?

Die nächsten Aufführungen: 20., 23. und 28. April, 8. und 29. Mai. Karten gibt es in den Bonnticket-Shops der GA-Zweigstellen.

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