Premiere im Euro Theater Central Michael Meichßners beeindruckendes Regiedebüt

Bonn · Beeindruckendes Moralische Verwirrungen im Bonner Euro Theater Central: Dennis Kellys „Waisen“ geht in der eindringlichen Inszenierung unter die Haut.

 Psychothriller: Szene aus „Waisen“ im Euro Theater Central.

Psychothriller: Szene aus „Waisen“ im Euro Theater Central.

Foto: Lilian Szokody

Gleich vorweg: Die Vorstellung geht unter die Haut. Schmerzhaft. Sie zeigt, wie hauchdünn der Firnis unserer Zivilisation ist und wie brutaler Fremdenhass in scheinbar geordnete Verhältnisse einbricht. Das 2009 in Edinburgh uraufgeführte Stück „Waisen“ des Briten Dennis Kelly, im selben Jahr von Theater Heute zum besten ausländischen Dramatiker gewählt, war 2013 bereits in der Werkstatt von Theater Bonn zu erleben. Im Euro Theater Central hat es jetzt der Regisseur Michael Meichßner inszeniert, der dort als Schauspieler in der preisgekrönten Aufführung von „Michael Kohlhaas“ weiterhin auf der Bühne steht. „Waisen“ ist sein gelungenes Regiedebüt.

Die sogenannte Flüchtlingskrise war bis vor wenigen Jahren noch nicht in aller Munde. Meichßner hat den Text leicht aktualisiert und den Akteuren deutsche Namen gegeben. Jana und Thomas haben einen fünfjährigen Sohn. Der ist an diesem Abend bei Thomas‘ Mutter. Denn das junge Paar wünscht sich einen gemütlichen Abend zu zweit. Der wird jäh unterbrochen durch Janas jüngeren Bruder Marco mit blutverschmiertem Hemd: Da draußen sei ein verletzter Junge, dem er geholfen habe. Marco verstrickt sich in immer neue Varianten der Geschehnisse. Jedem wird schnell klar: Er ist der Täter. Also keinen Notarzt und keine Polizei, denn Jana will ihren einschlägig vorbestraften Blutsverwandten schützen, auch wenn ein Fremder verblutet.

In dem steril weißen Wohnzimmerkubus von Ausstatterin Jule Dohrn-van Rossum wird auf grauen Filzpantoffeln viel geredet in stotternd abgebrochenen Halbsätzen, die das Unsägliche verschweigen. Die Gewalt bleibt unsichtbar hinter der nur leicht aufgeschlitzten rückseitigen Papierwand. Ab und zu schaltet Thomas (guter Job, braver Freund und Familienvater) per Fernbedienung schöne Musik an (am Klavier eigens eingespielt von der bekannten Bonner Pianistin Susanne Kessel). Virtuos füllen alle drei Akteure die sprachlichen Leerstellen über pausenlose eindreiviertel Stunden mit sensibler Verletzlichkeit und fabelhafter Energie. Die Regie gönnt jedem kurze Atempausen mit imaginären Videoträumen.

Zwischen allen Gefühlen

Anna Möbus spielt eindrucksvoll die zwischen allen Gefühlen schwankende, soeben wieder schwangere Jana, die ihre bürgerliche Geborgenheit um keinen Preis verlieren will. Als Sozialwaise lieblos in Heimen aufgewachsen, eng verbunden mit ihrem aggressiven Bruder. Frank Casali verkörpert hochsensibel den auf alles wütenden jungen Marco, der verzweifelt Zuwendung verlangt, in einer rechtsradikalen Szene sowas wie Heimat gefunden hat und als notorischer Loser irgendwelche Feinde vernichten will. In einem hysterischen Rederausch bringt Jana ihren Thomas dazu, nicht mehr als „unmännlicher Feigling“ rumzuhocken, sondern dem Opfer „Angst einzujagen“, damit es nichts mehr sagt. Stefan Kreißig spielt die emotionalen und moralischen Verwirrungen des arrivierten Arbeitnehmers mit feinsten Nuancen. Wie er detailliert von der grausamen Misshandlung des Fremden berichtet (tatsächlich ein an allem völlig unbeteiligter muslimischer Familienvater, der Marco zufällig über den Weg lief), ist nichts für zarte Gemüter. Erschreckend bleibt: Thomas hat mitgemacht. Für seine imaginäre eigene heile Welt, die nun entsetzlich verwaist ist.

„Waisen“ ist im ETC ein brillanter Psychothriller, der hellsichtig dem Dunklen auf die Spur geht. Realistisches, politisch wachmachendes Theater ohne aufgeplusterte Mätzchen. Unbedingt sehenswert, bevor das ETC auf dem Kultursparaltar der Stadt massakriert wird.

Nächste Vorstellungen am 10.11., 20 Uhr und am 11.11., 18 Uhr. Weitere Aufführungen vom 16. bis 18. 12. Tickets unter Tel. 0228 652951.

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