Bonner Maler Manfred Weil "Ich zerknirsche mich nicht"

Bonn · Knapp 1300 Gramm wiegt das Frühchen bei der Geburt. Wird es überleben? Die Ärzte des Krankenhauses in Köln-Lindenthal machen Anna und Emil Weil wenig Hoffnung. Also nehmen die Eltern ihren kleinen Manfred lieber mit nach Hause, weil sie befürchten, eine vornehmlich von Skepsis gelenkte Pflege in der Klinik könne erst recht nicht gelingen. Eine weise Entscheidung. Vergangene Woche starb Manfred Weil im Alter von 94 Jahren.

 Manfred Weil.

Manfred Weil.

Foto: Holger Arndt

Dass er als Jude das Terrorregime der Nazis überlebte, ist das noch größere Wunder. "Als die Nazis an die Macht kamen, war ich zwölf Jahre alt und fortan von Staats wegen minderwertig."

Manfred Weil überlebte das Grauen. Dank seines unbeugsamen Willens, seines jugendlichen Übermuts, seines Gespürs für Gefahr und seines Talents, in fremde Rollen zu schlüpfen, entging der vogelfreie Staatenlose während einer abenteuerlichen Odyssee durch Europa ein ums andere Mal den Häschern, floh aus dem KZ und rettete auch seinem jüngeren Bruder Anatol das Leben. Kurz und bündig lässt sich das mit zwei jiddischen Worten umschreiben: Der junge Mann hatte in einer menschenverachtenden Welt und lebensgefährlichen Zeit Chuzpe und Massel.

Vor vier Jahren, im September 2011, besuchte ich den Maler in seinem Zuhause in Meckenheim-Merl. "Kommen Sie, ich zeige Ihnen mein Atelier." Da stand er nun, inmitten seiner unzähligen Ölbilder, Aquarelle, Tuschezeichnungen: klein, schlank, drahtig, T-Shirt, Chinos, schelmisch blitzende Augen. "Ich kann nur im Stehen malen. Sonst werden die Bilder nichts. Ich arbeite jeden Tag vier, fünf Stunden. Von meiner Rente kann ich gerade mal die Telefonrechnung bezahlen."

Manfred Weil stellte das ohne Klage fest. Der gelernte Tischler lebte seit dem Ende des Nazi-Regimes ausschließlich von seiner Kunst, weil er es so und nicht anders wollte. Die Objekte seiner künstlerischen Begierde: Frauen. "Ich bin jetzt selbst überrascht, dass ich so oft Frauen gemalt habe", sagte er mit unschuldigem Blick. "Aber Frauen geben eben formal mehr her."

Manfred Weils Frauen sind von atemberaubender Schönheit, verschwenderischer Sinnlichkeit, betörender Anmut - und nicht selten ähneln sie frappierend seiner immer noch wunderschönen Frau Alisa. Seine Liebeserklärung und sein Geschenk an sie: die ewige Jugend auf der Leinwand.

"Der Kaffee wird kalt", ermahnt Alisa Weil ihren Mann. Wir nehmen im Wohnzimmer Platz. An der Wand hängt eine Schwarzwälder Kuckucksuhr. Weil grinst: "Witzig, nicht?" Seine Frau ergänzt entschuldigend: "Die hat er sich zum 90. Geburtstag gewünscht." Dann streichelt sie liebevoll seine Hand. Sie berühren sich oft, nehmen sich in den Arm, albern und lachen ständig miteinander - 40 Jahre nach der Hochzeit. "Wir haben jeder eine gescheiterte Ehe hinter uns und dazugelernt", sagt Alisa. Sie ist in Stettin geboren, aber in Palästina aufgewachsen, noch bevor der Staat Israel gegründet wurde. Ihre jüdischen Eltern, politisch denkende Menschen, Sozialdemokraten, hatten die Zeichen der Zeit früh erkannt und mit den Kindern rechtzeitig Deutschland verlassen.

Ausgerechnet Deutschland?

Alisas Großmutter war Else Höfs, eine der wenigen Frauen in der ersten deutschen Demokratie, 1919 Mitglied der verfassungsgebenden Nationalversammlung der Weimarer Republik und 1921 bis 1928 SPD-Abgeordnete im preußischen Landtag.

Im britischen Mandatsgebiet Palästina gehörte Alisa einer paramilitärischen Jugendgruppe der zionistischen Untergrundbewegung Hagana an, als ihre Eltern nach dem Krieg entschieden, zurück nach Deutschland zu gehen. Für die 16-Jährige brach eine Welt zusammen. Ausgerechnet Deutschland? "Ich war als Israelin aufgewachsen, aber meine Eltern waren nach wie vor deutsch bis auf die Knochen und wollten nun helfen, die Demokratie in ihrer Heimat aufzubauen."

Manfreds Eltern hatten die Zeichen der Zeit nicht so früh erkannt. Vielleicht, weil der jüdische Vater hochdekorierter Veteran des Ersten Weltkrieges war und ihn die militärischen Verdienste ums Vaterland in trügerischer Sicherheit wiegten. Vielleicht auch, weil die Mutter nicht jüdischen, sondern katholischen Glaubens war. Tischlerlehrling Manfred erlebte die Pogromnacht in Köln. "Ich sah, wie ein SS-Mann eine junge Frau an den Haaren aus dem Hausflur zerrte und die Nachbarn applaudierten."

Der Vater verlor seine Anstellung als kaufmännischer Geschäftsführer einer Schleiferei, als "gemischtrassige" Unternehmensleitungen verboten wurden. Er flieht nach Antwerpen, um dort eine neue wirtschaftliche Existenz aufzubauen. Die jüdischen Söhne Manfred und Anatol folgen im Januar 1939, durchschwimmen in einer eiskalten Winternacht die reißende Sauer und schlagen sich bis in die belgische Hafenstadt durch. Die katholische Mutter bleibt im katholischen Köln.

"Ich wusste: Hier gehe ich zugrunde"

Manfred Weil besteht die Aufnahmeprüfung für das Fach Malerei an der Königlichen Akademie der Schönen Künste und lernt fleißig Flämisch. Aber der Traum vom erfüllten Leben als freier Künstler ist von kurzer Dauer. Hitlers Wehrmacht rückt nur Monate später vor, die belgischen Behörden deportieren alle deutschen Immigranten, die nun als Staatsfeinde gelten, in südfranzösische Internierungslager. Manfred und sein Vater landen in Saint-Cyprien an der Mittelmeer-Küste unweit der spanischen Grenze. Anatol haben sie aus den Augen verloren, weil der zuvor schon in ein spezielles Jugendlager eingewiesen worden war.

In Saint-Cyprien sind vor allem Angehörige der geschlagenen republikanischen Armee Spaniens interniert, die vor Francos marokkanischen Söldnern nach Frankreich geflohen waren - in die vermeintliche Freiheit. Es gibt einen Stacheldrahtzaun - und sonst nichts als Hunger, Durst, Hitze, Überflutungen, Seuchen und den Tod.

Von Oktober 1940 an werden 3870 jüdische Staatenlose aus Saint-Cyprien in Viehwaggons gepfercht und an den Atlantik verfrachtet - ins berüchtigte KZ Gurs. Manfred Weil: "Ich wusste: Hier gehe ich zugrunde."

Im unbesetzten Südfrankreich des Vichy-Regimes gehen die Gestapo-Schergen bald ein und aus. Emil Weil steckt seine Brotration dem Sohn zu und animiert ihn zur Flucht: "Hier! Du musst weg! Ich habe keine Kraft mehr. Ich habe mein Leben gelebt." Da ist Emil Weil erst 57 Jahre alt.

In der Nacht gelingt dem 19-jährigen Sohn tatsächlich die Flucht. Er nutzt den Tiefschlaf der Wachmannschaft in den frühen Morgenstunden und entwirrt den Stacheldraht mit bloßen Händen. Ein französischer Bauer versteckt ihn vor dem Suchkommando der Gendarmerie. "Es waren immer die einfachen Leute, die mir geholfen haben. Wenn die ganze Welt voller Schurken gewesen wäre: Ich hätte keine Chance gehabt."

Identitätskarte ohne das tödliche "J"

Ausgehungert erreicht er 150 Kilometer später Bordeaux. "Feldkommandantur" steht dort über dem Eingang einer Baracke. Ein provisorisches Büro der Wehrmacht. Der staatenlose Jude spaziert hinein und erklärt, er sei ein von den Franzosen verschleppter Reichsdeutscher, die hätten ihm sogar den Pass abgenommen. Die Geschichte entspricht dem Bild des sichtlich empörten deutschen Offiziers vom Erzfeind. Manfred Weil erhält eine vorläufige Identitätskarte - ohne das tödliche "J" im Stempel - und bekommt Arbeit im Armeeverpflegungslager. Als eine aus SS-Leuten bestehende Prüfkommission für deutsche Rückwanderer anreist, flüchtet er über Paris und Lille nach Antwerpen, spielt dort trotz seiner schmächtigen Statur und seiner schäbigen Kleidung erfolgreich den arischen Herrenmenschen, schneidig und arrogant, speist sogar im Offizierscasino zu Abend, erhält schließlich einen echten Fremdenpass - ohne das "J".

In Antwerpen werden arische Fremdarbeiter für deutsche Fabriken angeworben. Er gibt sich als Flame aus, bekommt eine Bescheinigung, wird mit dem Zug nach Wiesbaden gebracht und einer Holzfabrik zugewiesen. Das geht eine Weile gut, bis wieder Uniformierte in der Fabrik auftauchen. Manfred kann die Gefahr riechen, verschwindet auf der Stelle, mit dem Zug über Koblenz und Malmedy, sucht sich Arbeit in Calais, bleibt vorsichtshalber nirgendwo lange, geht zurück ins besetzte Antwerpen, wo er seinen Bruder Anatol wiederfindet. Der hat nicht so viel Chuzpe und scheiterte beim Versuch, einen Fremdenpass ohne "J" zu ergattern, an einem belgischen Beamten im Antwerpener Rathaus.

Manfred geht zur nächsten Telefonzelle, ruft den Beamten an und schnauzt in den Hörer: "Hier Kriegsoberinspektor Gangsor, Feldkommandantur 520. Ich schicke Ihnen jetzt zum zweiten Mal einen jungen Mann namens Anatol Weil vorbei. Und dann stellen Sie ihm endlich einen Pass aus. Ich hoffe für Sie, die Sache ist hiermit erledigt. Heil Hitler!" Dann knallt Manfred Weil den Hörer auf die Gabel. Eine halbe Stunde später hat Anatol seinen Pass.

Als belgische Fremdarbeiter finden die jüdisch-deutschen Brüder Arbeit beim Bunkerbau im französischen Calais und anschließend in einer Möbelfabrik in Detmold. Am Morgen des 31. August 1942 diskutieren die Brüder über den jüngsten Bericht der Wochenschau zum Russland-Feldzug - und ahnen nicht, was zur selben Zeit in einem Vorort von Paris geschieht, sorgsam in Akten notiert, dank der Buchhalter-Mentalität der Nazis: Um 8.55 Uhr verlässt Zug Nr. 26 mit ihrem Vater und eintausend weiteren in Viehwaggons gepferchten Juden den Bahnhof Drancy Le Bourget. Das Ziel: Auschwitz. Emil Weil trägt ein Holzkistchen mit seinen Kriegsorden bei sich. Die Söhne erfahren erst viele Jahre später vom Tod ihres geliebten Vaters.

6000 Mark Entschädigung

In Detmold wird der Betriebsobmann misstrauisch: "Ihr habt doch schwarze Haare. Ihr seid gar keine Flamen, ihr seid bestimmt Wallonen. Und Wallonen sind keine Arier." Manfred und Anatol machen sich erneut davon, Richtung Süden, ins Rheinland, besuchen kurz die katholische Mutter in Köln, heuern mit ihren belgischen Fremdarbeiter-Papieren auf der Schiffswerft in Oberkassel an, übernachten in Küdinghoven. Aber auch die Beamtin im Beueler Rathaus wird misstrauisch: "Sie haben ja gar keinen richtigen Pass. Das ist ja nur eine Bescheinigung!" Manfred und Anatol nehmen ein paar Tage Urlaub, um nicht aufzufallen, fahren mit dem Zug an den Bodensee, kaufen sich eine Landkarte, machen sich in der Nacht auf den Weg über die grüne Grenze in die neutrale, unbesetzte Schweiz.

Endlich frei. Denken sie. Doch die Schweizer haben nichts Besseres zu tun, als sämtliche Flüchtlinge zu internieren. Die Brüder landen im Zuchthaus, zusammen mit anderen Staatenlosen, geflohenen Nazis und aus deutschen Kriegsgefangenenlagern entwichenen Russen. "Diese zweieinhalb Jahre im Zuchthaus bis zum Kriegsende waren meine persönliche Universität des Lebens", sagte Manfred Weil später.

Im völlig zerstörten Köln finden sie keine Bleibe, aber per Zufall im benachbarten Bonn, wo sich die Brüder ein Zimmer und ein Bett teilen. Und bleiben. Manfred Weil wird von den Alliierten als "Displaced Person" registriert, bekommt später 6000 Mark Entschädigung, studiert an der Kölner Werkschule und hört an der Bonner Universität Professor Heinrich Lützelers legendäre Vorlesungen zur Kunstgeschichte. Und malt und malt und malt.

Nie das Grauen, lieber schöne Frauen. Von 1968 bis 1987 lehrt er Malen und Aktzeichnen an der Volkshochschule Bonn, erhält das Bundesverdienstkreuz. Kein Blick zurück im Zorn? "Ich zerknirsche mich nicht, ich mache mir doch nicht das Leben kaputt. Je älter ich werde, desto mehr kann ich über viele Dinge nur noch lachen."

Vor drei Tagen wurde Manfred Weil auf dem alten jüdischen Friedhof an der Bonner Römerstraße beigesetzt.

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