Kammerspiele "Die Möwe" zur Eröffnung der neuen Schauspielsaison

BONN · Das Vorspiel in den Kammerspielen war großes Kino, eine Verbeugung vor Billy Wilders Meisterwerk "Sunset Boulevard" aus dem Jahr 1950.

 Der Traum vom Comeback: Arkadina (Sophie Basse) in der Bonner Inszenierung von "Die Möwe".

Der Traum vom Comeback: Arkadina (Sophie Basse) in der Bonner Inszenierung von "Die Möwe".

Foto: Thilo Beu

Dort schwimmt der Drehbuchautor Joe Gillis (William Holden) zu Beginn tot in einem Swimming-Pool; er wurde ermordet. Holdens Stimme wendet sich aus dem Off an den Zuschauer, ordnet das Geschehen ein, und dann beginnt seine Geschichte von vorn. In den Kammerspielen findet Anton Tschechows Figur Konstantin Gawrilowitsch Treplew (Jonas Minthe) ein nasses Grab in einem Pool; er hat sich umgebracht. Seine Stimme ordnet das Geschehen fürs Publikum ein, dann beginnt das Stück "Die Möwe" von vorn.

Matthias Nebels Bühne ist weit von Tschechows russischem Landgut entfernt. "Die Möwe" hat es offenbar nach Amerika verschlagen, die Menschen wohnen in einer Art Motel mit Swimming-Pool und Palmen. Regisseur Sebastian Kreyer hat sich das Stück ganz zu eigen gemacht, was er zeigt, ist Theater "based on Tschechow", nach Motiven des Autors. Die knapp zweistündige, pausenlose Inszenierung bietet viel für Augen und Ohren, die Seele des 1896 uraufgeführten Dramas wird man allerdings vergeblich suchen.

Tschechows Figuren leiden daran, dass ihnen das Leben Rollen zumutet, die sie nicht spielen wollen, und sie träumen von Rollen, die sie nie spielen werden. Sie alle sind Lebensverlierer. Der junge Konstantin zum Beispiel hat ein symbolistisches Drama geschrieben, das niemand ernst nimmt. Konstantin scheitert an der Gleichgültigkeit seiner Umwelt, mit seinem Selbstmord endet das Stück.

Wie soll ein Publikum für neue Kunst entstehen, wenn die Menschen sich schon im Alltag nicht zuhören? Kreyer und sein Ensemble inszenieren ein Kommunikationsdesaster: Alle reden, und immer aneinander vorbei. Die Welt ist eine Bühne, vollgestellt mit Monologblöcken. Nicht einmal die eigene Mutter, Irina Nikolajewna Arkadina (Sophie Basse), eine ehemals große Schauspielerin, hört ihrem Sohn zu. Dazu ist die Diva, die wie Billy Wilders Norma Desmond von einem Comeback träumt, gar nicht in der Lage.

Ihr Universum ist in drei Worten treffend beschrieben: Ich, ich, ich. Sophie Basse gestaltet die Oberflächlichkeit der Arkadina aus, doch sie bleibt, wie die Inszenierung insgesamt, an der Oberfläche. Die Tragödie der Arkadina spielt sie nicht mit, nicht einmal die Jenseits-der-besten-Jahre-Melancholie. Basse bezieht sich anspielungsreich auf "Bernard und Bianca", am Ende trägt sie ein Mäusekostüm. Die Figuren bleiben Typen, eindimensionale Repräsentanten einer trivialen Welt, die keinen Kunstverstand mehr hat und keine Empathie empfinden kann. Soll das etwa Amerika sein?

Da Tschechows Drama auch ein Stück übers Theater ist, hauen sie in den Kammerspielen immer wieder Witze über die Schauspielerei raus. Und liefern endlos Belege dafür, dass Künstler im Allgemeinen und Schauspieler im Besonderen einen Sprung in der Schüssel haben. Der ungemein einfallsreiche Regisseur feuert dabei kein brillantes Feuerwerk ab, er serviert temporeiche Bühnen-Comedy, motiviert vom legitimen Bemühen, junges Publikum in die Kammerspiele zu locken. Sorin (Glenn Goltz) singt Sinatras "My Way", überhaupt wird viel gesungen (verantwortlich: Sebastian Blume), die Musik spielt eine wichtige Rolle - und vor allem soll gelacht werden im Parkett.

Einige Tschechow-Tupfer, immerhin, sind auf Sebastian Kreyers knallbuntem Tableau nicht zu übersehen. Jonas Minthe hat einen starken Augenblick am Klavier, sein Unglück drückt er in einem traurigen Song aus. Mackie Heilmann als hoffnungslos Liebende sieht in einer Szene anrührend schwarz. Und Wolfgang Rüther als Verwalter Schamrajew gelingen zauberhafte komödiantische Miniaturen. Er erzählt Anekdoten aus einer glanzvollen Vergangenheit, die auf wunderbare Weise mit dem verschlampten Jetzt kollidieren; der Verwalter merkt es nur nicht.

Glenn Goltz (Sorin), Benjamin Grüter (Trigorin) und Maya Haddad (Nina), Ursula Grossenbacher (Polina), Andrej Kaminsky (Arzt) und Maik Solbach (Lehrer) geben ihren Figuren Profil - Tiefe war ja keine Option. Das Ganze endete dennoch mit viel Premierenjubel.

Die nächsten Aufführungen: 17., 19., 27. und 28. September; 11., 19. und 25. Oktober.

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