Premiere im Euro Theater Central Zwischen allen Grenzen

Gabriele Gysi inszeniert Bertolt Brechts anspruchsvolle „Flüchtlingsgespräche“ Euro Theater Central. Bei der Premiere hat sich gezeigt, dass hinter der scheinbaren Absurdität, hinter all dem Slapstick und den Paradoxa auf der Bühne eine bemerkenswerte und zugleich erschreckende Aktualität lauert.

 Die Kleine (Charlotte Welling) und der Große (Richard Hucke) in Brechts Flüchtlingsdrama.

Die Kleine (Charlotte Welling) und der Große (Richard Hucke) in Brechts Flüchtlingsdrama.

Foto: Szokody

Irgendwie sind sie hängengeblieben. Erst willkommen geheißen und dann zwischen Koffern vergessen worden. Dabei haben die beiden Figuren, die das Euro Theater Central in seiner Inszenierung von Bertolt Brechts „Flüchtlingsgesprächen“ sowohl namen- als auch berufslos und so zugleich zu Niemand und Jedermann macht, einen ganz besonderen Blick auf die Menschheit und ihre Tugenden.

Und einen, der heute noch genau so viel entlarvt wie vor mehr als 70 Jahren. Bei der Premiere des Stücks am vergangenen Donnerstag hat sich gezeigt, dass hinter der scheinbaren Absurdität, hinter all dem Slapstick und den Paradoxa auf der Bühne eine bemerkenswerte und zugleich erschreckende Aktualität lauert. Eine reizvolle Mischung – und eine ziemliche Herausforderung für Schauspieler und Publikum gleichermaßen.

Regisseurin Gabriele Gysi hat sich bei ihrer Auseinandersetzung mit Brechts Ende der 30er Jahre entstandenen und erst 1961 posthum veröffentlichten Text ganz offensichtlich von Samuel Becketts „Warten auf Godot“ leiten lassen – selbst der mickrige Baum von Wladimir und Estragon findet auf der ansonsten fröhlich bunten Bühne seinen Platz.

Episches trifft auf absurdes Theater. Das passt. Doch während die Wartenden bei Beckett sich mit allerlei Sinnentleertem beschäftigen, um die Zeit totzuschlagen, nehmen die von Regieassistentin Nina Dahl charmant Willkommen geheißene Kleine (Charlotte Welling) und der Große (Richard Hucke) das schmerzhafte Wagnis auf sich und jonglieren mit messerscharfen Gedanken, wohl wissend, dass die Wahrheit hierzulande nicht allzu wohl gelitten ist.

Zur Tarnung nutzen sie den Brechtschen Verfremdungseffekt, sagen also alles, das aber möglichst so, dass sich die Logik mitunter selbst in den Schwanz beißt. Dennoch gelingt es den beiden Flüchtlingen im Wartesaal zwischen allen Grenzen, einige der großen Errungenschaften der Menschheit satirisch zu sezieren. Die Volkswirtschaft etwa, die in ihrer Komplexität kaum noch verstanden werden kann.

Oder die Reise-, Meinungs- und Pressefreiheit, die gezwungenermaßen nicht zu weit getrieben werden darf, um auch ja keine Gefühle zu verletzen. Und dann ist da noch der Krieg: Der, der mit Panzern und Drohnen geführt wird (hier hat sich Gysi erlaubt, ganz dezent in die Vorlage einzugreifen); der, bei dem die Bevölkerung nur im Weg ist, so dass eine dauerhafte Zwangsevakuierung der humanste Weg zu sein scheint, um die Konflikte um Ressourcen auszutragen; und der, bei dem selbst Friedenslieder zu verbalen Waffen werden.

Die beiden Schauspieler Charlotte Welling, die mit den „Flüchtlingsgesprächen“ ihre Euro-Theater-Premiere feiert, sowie Richard Hucke müssen dabei einen Balance-Akt bestehen, müssen permanent zwischen ernsthafter Dialektik und totaler Überzeichnung hin und her taumeln, um Brechts Forderung von einer Abgrenzung zum aristotelischen Theater gerecht zu werden. Die ständigen Distanz schaffenden Brüche fordern mitunter ihren Tribut.

Doch das Spiel gelingt, nicht zuletzt dank eines exzellent agierenden Teams. 85 Minuten lang kann man sich nicht fallenlassen, kann nicht in die Illusion eines klassischen Theaters hinabsteigen, sondern muss mit- und weiterdenken. Doch nicht weniger haben dieser Text und das Ensemble verdient.

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