Marathon in Jerusalem Wie der Sport Brücken baut

Beobachtungen und Gespräche in Jerusalem: Der Marathon durch die Heilige Stadt ist mehr als ein Sportevent. Eine Organisation kümmert sich um die Opfer von Terroranschlägen und nutzt das Laufen als Therapie.

 Jerusalem-Marathon: Die Teilnehmerzahl wächst von Jahr zu Jahr, diesmal liefen 30.000 mit.

Jerusalem-Marathon: Die Teilnehmerzahl wächst von Jahr zu Jahr, diesmal liefen 30.000 mit.

Foto: Carlos Galindo

Hier! Fühlen Sie mit Ihrer Hand doch mal an meinem Rücken“, sagt Hadas Mizchi. Mich schaudert, als ich die beiden Kugeln ertaste, die noch in ihrem Körper stecken. „Eine weitere hat die Wirbelsäule nur gestreift“, sagt die 40-Jährige. Wenige Millimeter daneben, und sie wäre gelähmt. Der Durchschuss des Oberschenkels – kaum der Rede wert.

Was ihr vor drei Jahren widerfuhr, ist das Grauen schlechthin. Mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern fuhr die Jüdin durch Jerusalem, als ein Kugelhagel die Familienkutsche durchsiebte. 45 Einschüsse wurden gezählt. Der Familienvater starb. Die Mutter und die Kinder überlebten, alle mehr oder weniger verletzt. Warum es die Mizchis traf? Darüber gibt es keine wirklichen Erkenntnisse.

Das Attentat: Ausdruck blinder Wut von Extremisten. Im Kampf gegen Juden? Gegen westliche Werte? Für Hadas Mizchi spielten diese Fragen bald keine große Rolle mehr. Sie hat ins Leben zurückgefunden – auch durch „One family“, die erste wohltätige Organisation Israels, die sich um die Terroropfer kümmert. Ihre Wut auf die Attentäter ist verraucht. Nur so konnte sie zurückfinden ins normale Leben.

2017 bewegt sich Mizchi unbeschwert auf den Straßen ihrer Stadt. „Ich war vorher eine glückliche Frau, und ich bin heute eine glückliche Frau“, sagt die Israelin. Sie hat die Frage abgehakt, warum gerade sie und ihre Familie zu Opfern wurden. Auch die Ängste, das Furchtbare könnte erneut sie treffen. „One family“ hat ihr dabei geholfen. Mit psychologischer Unterstützung, aber auch praktisch. Es dauerte schließlich, bis sie wieder gehen konnte.

Mizchi hat die schwierige Phase hinter sich, in der aktuell zum Beispiel auch Opfer des Attentats auf dem Berliner Weihnachtsmarkt stecken. Ob in Israel, wo die Konflikte zwischen Arabern und Juden den Terror seit mehr als einem halben Jahrhundert verstärken; ob in der deutschen Hauptstadt; ob in London, Brüssel, Paris oder wie 2013 beim Marathon in Boston: Im 21. Jahrhundert kann es jeden treffen.

Dennoch ist die Situation im Mittleren Osten seit jeher außergewöhnlich angespannt. Nicht zuletzt in Jerusalem. Der ständig schwelende Konflikt zwischen Juden, Christen und Muslimen hält viele Menschen davon ab, dorthin zu reisen. In erster Linie aus Angst vor einem Anschlag. Nach Schätzung der israelischen Tourismusbehörde gibt es fünf Milliarden, die gerne die Heilige Stadt besuchen möchten. „Sie wollen sehen, wo die Bibel passiert ist“, glaubt Nir Barkat, der Bürgermeister von Jerusalem. Er wünscht sich, dass die Gäste „sehen, wie offen die Stadt ist“ und „als Botschafter des Friedens in ihre Heimat zurückkehren“.

„Unsere Wirtschaft boomt, der Tourismus wächst“, sagt Barkat. Um das lukrative Geschäft mit Gästen aus aller Welt anzukurbeln, wurden 40 Journalisten und Blogger aus 15 Nationen eingeladen, auch zum Jerusalem-Marathon. Sie sollen die Botschaft einer weltoffenen Stadt mitnehmen. Die Schreiber, Fotografen und Fernsehleute kamen aus Brasilien, China, Japan, Südkorea, USA – und aus Europa. Aus England, Frankreich, Italien, Spanien, Deutschland sowie Österreich.

Der laufbegeisterte Bürgermeister hat den Sport als strategisches Mittel entdeckt: Nach innen soll er das Miteinander beflügeln, nach außen einen Imagegewinn bewirken. Mit Sport will Israel Brücken bauen. Deshalb wird diese Strategie landesweit verfolgt: Über das Jahr verteilt, gibt es fast ein Dutzend Ausdauerevents.

Vom dreitägigen Radrennen am Toten Meer bis zum Wüsten-Marathon in Eilat. Überall betonen sie den völkerverbindenden Faktor. Die Stätten sollen Sportler aus aller Welt mit ihren historischen und landschaftlichen Reizen in den Bann ziehen. Es geht um die Botschaft, nicht um Spitzensport.

Mehr als 30.000 Teilnehmer auf verschiedenen Distanzen von 5 Kilometern bis zur klassischen Strecke über 42,195 Kilometer bedeuteten einen neuen Rekord bei der siebten Auflage des Jerusalem-Marathons, der auch eine beeindruckende Kundgebung für friedliche Koexistenz war. War die Harmonie nur vordergründig? Jedenfalls hallten die Gebete der Muezzins wie an jedem anderen Tag genauso laut über die Dächer der 930.000-Einwohner-Stadt wie das Glockengeläut der christlichen Kirchen.

Die Sicherheitsvorkehrungen im Umfeld waren wohl gigantisch. Aber weitaus unauffälliger als etwa beim New York Marathon. Und kaum anders als aktuell in Deutschland. Polizisten mit Maschinenpistolen dienen auch hierzulande der Abschreckung bei Massenveranstaltungen. Sicherheitskontrollen gab es beim Jerusalem-Marathon nicht, um in den Startbereich zu gelangen, der direkt vor der Knesset erfolgte.

Gerade einmal 300 Ausländer hatten sich bei der Premiere 2010 unter die damals rund 10.000 Teilnehmer gemischt. Seither steigt die Zahl von Jahr zu Jahr. Auf inzwischen 3500 Aktive aus 70 Nationen. In der Starterliste tauchten auch die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien und die Türkei auf. Selbstverständlich ist der Marathon auch ein Wirtschaftsfaktor: „Mehr als 10.000 zusätzliche Übernachtungen“ hat Jerusalems Tourismus-Direktorin Ilanit Melchior diesmal registriert. „Wir freuen uns schon aufs nächste Mal.“

Als Protestplattform taugte der Marathon kaum. Hier und da kreuzten ultraorthodoxe Juden zu Fuß mit demon-strativer Ignoranz ebenso resolut wie rücksichtslos die Laufstrecke, ohne sich um die Sportler zu scheren. Doch Gehör verschaffte sich entlang der 42,195-Kilometer-Distanz nur eine kleine, mit Megafonen ausgerüstete Gruppe, die für die Anerkennung Palästinas protestierte. Sie stand kurz vor der Halbmarathonmarke am Streckenrand – dort, wo es durch das Jaffa-Tor durch die historische Altstadt geht.

„Wo lauft ihr hin?“, hatten sie auf ein Transparent geschrieben – in Schach gehalten von einem halben Dutzend schwer bewaffneter Polizisten. An einer Hauswand hing Israels Flagge – mit der Aufschrift: „Für Israel zu sein bedeutet, für ganz Israel zu sein. Inklusive Jerusalem, Judäa und Samaria.“ Also mit den umstrittenen jüdischen Siedlungen im Westjordanland. Es ist ein Standort der Konfrontation.

Die Demo richtete sich nicht erkennbar gegen den auch durch Ost-Jerusalem führenden Marathon. Wie dieser soll auch der Fußball dazu dienen, Brücken zu bauen. Ein Beispiel dafür ist die Förderung des Clubs Hapoel Katamon FC samt kooperierender Schule. „Wir werden die Probleme des Mittleren Ostens nicht lösen, wollen aber einen wichtigen Schritt tun“, sagt Club-Präsident Uri Sheradsky. Durch Erziehung zu Toleranz.

Schlüsselidee ist die Philosophie der Schule, die als Nachwuchsreservoir für den Verein dient. Sie liegt im Stadtteil Katamon an der Nahtstelle zwischen jüdisch und arabisch dominierten Stadtgebieten. Sie wird von Kindern ab dem Alter von drei Jahren besucht, mit gleich starken Anteilen aus muslimischen, jüdischen und sogenannten weltlichen Familien. Die Nachfrage ist groß. Wer sich zuerst anmeldet, wird genommen. Geld und Ansehen spielen nach Angaben des Clubs keine Rolle.

„Der komplette Unterricht findet bilingual statt“, berichtet Sheradsky. Auf Hebräisch und Arabisch also. Englisch kommt früh hinzu. Das Konzept fußt darauf, dass die Kinder sich von Beginn an über das Leben in ihren Familien austauschen, über Ess- und Urlaubsgewohnheiten, natürlich auch über Fußball, vielleicht sogar über Religion. „Es wird nicht erwartet, dass sie sich angleichen. Aber sie sollen sich respektieren“, so der Club-Chef, der selbst unterrichtet. „Noch ist es etwas Besonderes. Unser Traum ist, dass es Normalität wird.“ In Haifa und Jaffa starten in Kürze ähnliche Projekte.

Beim Training der 13-Jährigen des Katamon FC wird sofort klar, dass der Fußball hier genauso große Integrationskraft entfaltet wie zwischen Köln-Nippes und Bad Godesberg, wo junge Türken und Deutsche, wenn sie vernünftig betreut werden, ihre Probleme auch vernünftig lösen. David und Yosef, beides Juden, passen sich den Ball zu. Mohammed ist Muslim. Er grätscht dazwischen und erwischt David am Knöchel. Sofort zieht Mohammed den Gefoulten hoch. Shakehands, es fällt kein böses Wort.

Sheradskys Überzeugung ist: „Sport ist ein Spiegel der Gesellschaft. Wenn wir dort etwas ändern, dann ändert sich auch die Gesellschaft.“ Ein anderer Satz des eloquenten Juden allerdings spiegelt das ganze Schreckenspotenzial: „Wenn du in Jerusalem über Politik redest, bist du in fünf Minuten tot“, sagt er. Daraus folgt für die Kommunikation im Verein: „Wir reden nicht über Politik – und machen damit Politik.“

Auch beim Projekt „Running Without Borders“ ist das die oberste Regel. „Sport ist besser als diskutieren“, hat Yisrael Haas festgestellt, der 2014 ein Laufteam aus Juden und Arabern gegründet hat. Die Gewaltexzesse im Sommer 2014 haben ihn dazu bewogen. „Laufen war immer mein Sport, und mit dem möchte ich Ost- und Westjerusalem näher zusammenbringen“, sagt der 37-Jährige, dessen Großeltern Deutschland zur Nazi-Zeit verlassen hatten. Und: „Wir wollen den negativen Strömungen in Israel entgegenwirken.“

Waleed Jawabreh ist einer der muslimischen Sportler. „Ich habe Running Without Borders mit meinem Bruder bei Facebook entdeckt“, erzählt der 17-Jährige: „Ich fand die Kooperation und das friedliche Miteinander zwischen Juden und Arabern wichtig, weil es da sonst viele Probleme gibt.“ Jawabreh hat den Fünf-Kilometer-Lauf geschafft. Er wirkt wie beseelt. „Am Anfang mochten meine Freunde das nicht, sie haben mich in der Klasse ignoriert. Dann haben sie sich aber daran gewöhnt.“ Er habe, so Jawabreh, Freunde gefragt, ob sie mitlaufen wollten. „Aber sie durften das nicht.“

Haas macht keinen Hehl aus den Schwierigkeiten. Spenden und Fördergelder werden verwendet, um die Jugendlichen aus Ost-Jerusalem mit dem Taxi zum Training bringen zu lassen, weil sie sonst von Sicherheitskontrollen aufgehalten werden könnten. „Unser Traum, ein gemeinsames Team aus arabischen und jüdischen Jugendlichen zu bilden, resultierte aus dem Rassismus und der steigenden Gewalt nach den Exzessen im Sommer 2014“, sagt Haas.

Inzwischen betreut „Running Without Borders“ insgesamt 60 Sportler, darunter auch Mädchen. Unterstützung erhält das Projekt vom Sportministerium. Das Außenministerium steuerte 2016 überdies umgerechnet etwa 4000 Euro für die Teilnahme von Läufern am Berlin-Marathon bei.

Die Kraft des Sports hat der tapferen Terrorwitwe Hadas Mizchi auf andere Weise geholfen. Ihr Mann war Marathonläufer, startete sogar einmal in den USA. Sie selbst war fünfmal in Tel Aviv gerannt. Sport als Verwirklichungsweise einer aktiven, lebensfrohen Familie. Das ist sie auch jetzt wieder, auch dank „One family“.

Mizchi hat am Rahmenprogramm des diesjährigen Marathons teilgenommen, der nahe am Ort des grausamen Attentats vorbeiführte. Sie ist fünf Kilometer gelaufen. „Mehr ging leider nicht. Dafür sind die Folgen meiner Verletzungen noch zu schwer. Die Ärzte hatten mir ganz abgeraten“, sagt sie lächelnd. Und ergänzt mit erkennbarem Stolz: „Zwei meiner Töchter machen über zehn Kilometer mit. Sport hat im Leben der Familie immer eine Rolle gespielt. Und so ehren wir das Andenken meines Mannes, indem wir das weitermachen, was ihm Freude gemacht hat.“

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