Behinderte und Diskriminierung Wer fesselt wen an den Rollstuhl?

Bonn · Unsere Bewertung von Behinderung hat viel damit zu tun, dass wir uns davor fürchten, selbst bestimmte Funktionen des Körpers, der Psyche oder des Verstands zu verlieren. Und schon sind auch Journalisten in die Falle getappt. Und die heißt: diskriminierende Sprache.

Die Journalistin hatte sich eigentlich gar nichts weiter dabei gedacht. „Er ist an den Rollstuhl gefesselt“, hatte sie wohlmeinend über einen behinderten Mann geschrieben. Sie hatte seinen Alltag mitfühlend geschildert, aber auch nicht schöngeredet. Und dann sagte der Mann, nachdem er ihren Text gelesen hatte, dies zu ihr: „Ein Rollstuhl ist keine Fessel, sondern ein Fortbewegungsmittel. Sollten Sie wirklich mal jemanden treffen, der an den Rollstuhl gefesselt ist, binden Sie ihn los!“

Die Sprache kann diskriminieren

Der Gehbehinderte befand sich in bester Gesellschaft: der weltberühmte Physiker Stephen Hawking, Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble und andere sind sprachlich schon unzählige Male an den Rollstuhl gefesselt worden. Das bestätigt „Leidmedien.de“, ein Online-Ratgeber für Journalisten, der von einem Team um den selbst „an den Rollstuhl gefesselten“ Berliner Sozial-Aktivisten und Buchautor Raul Krauthausen betrieben wird.

Das Problem für jeden Schreibenden heißt ohne Frage: diskriminierende Sprache. Die Recherche zieht sich ewig hin. Die Fakten müssen noch einmal gegen-gecheckt werden. Man will auf Akteure mit Handicap besonders sensibel eingehen. Die Deadline droht – und schon ist der GAU passiert: Der Artikel hat alles Mögliche eingebracht – nur nicht die Perspektive des Behinderten. Der Beitrag verletzt, obwohl gerade das auf keinen Fall gewollt war. Man hat den Behinderten ausführlich zu Wort kommen lassen. Aber eine einzige Formulierung deckt auf: Man hat das nicht auf Augenhöhe getan. Und kann es nicht wieder gutmachen.

Floskeln verletzen Menschen

Der gut gemeinte, aber nicht gut gemachte Satz „Tapfer meistert sie ihr Schicksal“ lässt Leser an eine Frau denken, die sich mit letzter Kraft durchs Leben schleppt. Die Behauptung, „er führt ein Leben in absoluter Dunkelheit“, ist purer Nonsens. Welcher Sehende kann von sich behaupten, zu wissen, wie sich Blindsein anfühlt?

„Seien Sie möglichst offen und natürlich“, rät die Bonnerin Annette Standop, Sozialpolitikerin im Stadtrat und von Beruf Psychotherapeutin. „Und fragen Sie direkt nach, ob Ihr Gesprächspartner sich zu diesem Thema äußern möchte.“ Die Rollstuhlfahrerin Standop hat eine geerbte spinale Muskelatrophie und beschäftigt abwechselnd fünf Festangestellte, damit sie mit Hilfe ihres technisch ausgebufften Stuhls rund um die Uhr selbstständig leben und arbeiten kann. „Ich konnte nie laufen. Für mich ist das Normalität“, sagt sie.

"Ich kann nicht tanzen, aber dafür Italienisch"

Aber habe nicht jeder Mensch Einschränkungen und Eigenheiten, die von der Norm abweichen? „Ich kann nicht tanzen, aber dafür Italienisch.“ Ihre Behinderung habe sie auf jeden Fall als beharrlich, organisations- und durchsetzungsfähig geformt. „Ich bin meinen Eltern dankbar, dass sie mich so stark gemacht haben.“ Am eigenen Leib hat die Bonnerin bisher keine diskriminierende Journalistensprache erlebt; sicher auch, weil sie das Thema selbst direkt anspricht. Allerdings nehme sie schon wahr, wie in Deutschland Sätze geschrieben würden wie „Er leidet an einer Querschnittslähmung“ oder „Trotz ihrer Behinderung lacht sie gerne und viel“.

Jetzt lacht Standop aus vollem Herzen. Die Behinderung an sich sei nicht das Leiden, sondern die Barrieren in den Köpfen der Mitmenschen. Etwa auch die positiv diskriminierende Art, die im englischsprachigen Raum „inspiration porn“, also Bewunderungs-Porno genannt werde: wenn man also dafür gelobt werde, wie toll man sein Leben meistere. „Das ist vielleicht sogar nett gemeint, grenzt mich aber aus“, sagt Standop, deren Handschrift gerade im Bonner behindertenpolitischen Teilhabeplan zu finden ist. „Man hält jemanden auf Abstand, indem man ihn als Helden oder Wundertier stilisiert. Da oben auf der Säule kann es ganz schön einsam sein.“

Inklusion 2.0 bedeutet, Menschen mit Behinderung sind selbstverständlich sichtbar

Journalisten sollten eine möglichst neutrale und sachliche Sprache pflegen, rät „Leidmedien“: nicht dramatisieren, nicht voyeuristische Sensationen schaffen. Bitte keine Mitleidsschiene. Keine „Freakshow“. In Zeiten, in denen „behindert“ auf Schulhöfen als Schimpfwort herumgeistert, könne Sprache Bewusstsein schaffen und veraltete Denkmuster aufschütteln – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Als solche aber spiele sie eine wichtige Rolle im Prozess der Inklusion.

„Leidmedien“ geht noch einen Schritt weiter: „Wir befinden uns im Schwebezustand zwischen Inklusion 1.0 – Menschen mit Behinderung werden sichtbar – und Inklusion 2.0 – ihre Sichtbarkeit ist selbstverständlich“, schreiben sie. Wenn da halt nur nicht die Hürde wäre, dass einem beim Formulieren dann zwar möglichst kein Klischee unterläuft, aber der Artikel vor lauter political correctness schließlich todlangweilig gerät.

Annette Standop dreht dann im Interview gerne mal den Spieß herum: „Ich frage, ob mein Gegenüber nicht Angst hätte, auf diesen beiden dünnen Beinchen durch die Welt zu laufen und den Halt zu verlieren. Meistens fangen meine Gesprächspartner dann an zu lachen, und an diesem Punkt ist der Knoten in der Regel geplatzt.“

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