Ehemalige Kolonie Vor 20 Jahren gaben die Briten Hongkong zurück

Hongkong · Es war (nicht offiziell, aber faktisch) das Ende des Empire: Heute vor 20 Jahren gaben die Briten ihre Kolonie Hongkong an China zurück, obwohl diese "auf ewig" an sie abgetreten war.

 Hongkong am Abend des 30. Juni 1997: Die königliche Yacht „Britannia“ hat angelegt, um den letzten britischen Gouverneur der Kronkolonie nach Hause zu bringen.

Hongkong am Abend des 30. Juni 1997: Die königliche Yacht „Britannia“ hat angelegt, um den letzten britischen Gouverneur der Kronkolonie nach Hause zu bringen.

Foto: picture-alliance / dpa/afp

Jede Zeit hat ihre eigene Denkungsart, und jede Denkungsart hat ihre eigenen Dichter. Kaum einer hat imperialere Verse geschmiedet als Rudyard Kipling, der Barde der britischen Weltherrschaft über ein Viertel der Menschheit. Er schrieb von der Pflicht des „weißen Mannes“, fremde Völker zu unterjochen, um ihnen die „westliche Zivilisation“ zu bringen, und glaubte zugleich, dass letzteres eigentlich gar nicht gehe: „East is east, and west is west / and never the twain shall meet“ (Ost ist Ost, und West ist West, und es verbindet sie nichts).

Kipling irrte. Es gab einen Ort, wo Ost und West sich 155 Jahre lang auf einzigartige Weise trafen. Vor 20 Jahren war diese Zeit endgültig vorbei. Vor 20 Jahren endete die britische Kolonialherrschaft in Hongkong. Es war nicht das offizielle, aber das faktische Ende des Empire; 500 Jahre, nachdem der Seefahrer John Cabot (kein Engländer, sondern Italiener) im Auftrag König Hein-richs VII. von Bristol aus lossegelte, um Nordamerika zu erkunden.

Er könnte nicht chinesischer aussehen, dieser junge Mann mit Brille – trüge er nicht eine blütenweiße britische Uniform. Es ist der Nachmittag des 30. Juni 1997: Der junge Hornist steht unter wolkenverhangenem Himmel auf dem Dach des Government House an der Upper Albert Road in der Stadt Victoria. Er spielt „The Last Post“, ein traditionelles Signal der Armee zur Trauer um die Gefallenen. Zu den melancholischen Klängen sinkt die britische Flagge.

Eine der britischsten Melodien zum Abschied

Dann setzen die Dudelsäcke ein. Mit einer hypnotisch ohrwurmhaften Weise, volksliedhaft simpel und raumgreifend imperial, klagend und auftrumpfend zugleich, magisch selbst zum Rummtata der Blasmusik. Das Stück heißt „Highland Cathedral“. Es gilt als eine der britischsten Melodien überhaupt (dabei stammt sie von zwei deutschen Komponisten, und Tonsetzer von „The Last Post“ war angeblich der Österreicher Joseph Haydn).

Chris Patten, der 28. und letzte britische Gouverneur Hongkongs, hört zu, während er sich auf einem Podest staatstragend nassregnen lässt. Sein letztes Telegramm nach London ist schon fertig. Es wird um Mitternacht in den Äther gehen und lautet lapidar: „Ich habe die Verwaltung dieser Regierung aufgelöst. God save the Queen.“

Ein Abschied voller Ästhetik und Stil, wie ihn nur die Briten hinbekommen. Vielleicht plagt sie ein bisschen das schlechte Gewissen. Hongkongs Geschichte als Kronkolonie ist das Ergebnis eines staatlichen Verbrechens. Im 19. Jahrhundert hungerte Britannien nach chinesischen Produkten wie Seide, Porzellan und – natürlich – Tee; die Chinesen hingegen zeigten wenig Interesse, im Gegenzug britische Waren zu erwerben. Mit einer üblen Ausnahme: Opium, das es im britisch besetzten Indien reichlich gab.

Marodes Reich gegen moderne Kanonen

Bald schmuggelten britische Händler das Rauschgift tonnenweise nach China; die Süchtigen zählten nach Millionen. Als die chinesische Regierung das zu unterbinden versucht, setzt Queen Victoria Truppen in Marsch; das marode Reich der Mitte hat den modernen Kanonen nichts entgegenzusetzen.

Zwei „Opiumkriege“ enden mit chinesischen Niederlagen; Bestandteil der Knebel-Friedensverträge sind diverse Gebietsabtretungen. Erst die Insel Hong Kong südlich von Kanton („auf ewige Zeit“, heißt es 1842 im Vertrag von Nanking), dann 1860 die Halbinsel Kowloon nördlich der Insel. „Auf 99 Jahre“ pachtet Britannien 1898 die „Neuen Territorien“ von Kowloon bis zum Shenzhen-Fluss und viele kleinere Inseln dazu.

Die Kronkolonie Hongkong, insgesamt etwas größer als das heutige Berlin, war zunächst nur eine Art größerer Handels- und Militärstützpunkt – bis nach dem Zweiten Weltkrieg hunderttausende Menschen vor dem Kommunismus Mao Tse-Tungs aus China flohen und ihre traditionelle Kultur mitbrachten.

Zwischen 1950 und 1980 verdoppelte sich die Einwohnerzahl; die Zuwanderer machen Hongkong nicht nur zu der mit Wolkenkratzern gespickten Kapitalismus-Metropole, als die wir es heute kennen (mit größerem Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt als Großbritannien selbst und mit zum Zeitpunkt der Übergabe 85 Milliarden US-Dollar Devisenreserven), sondern auch zu einer der faszinierendsten Städte der Erde.

Das Brodeln des modernen Westens und die Traditionen des alten Ostens gingen dort schon eine faszinierende Verbindung ein, als weite Teile der Restwelt noch glaubten, „Globalisierung“ sei das Fremdwort für „Globus-Herstellung“. Hochhausbau nach Feng-Shui-Prinzip. Der Geldtempel neben dem Geistertempel. Hindu-Friedhof neben Cricketstadion. Fahrradrikscha neben Rolls Royce.

Die "Eiserne Lady" hat ein Einsehen

Doch für ein dreitausendjähriges Reich sind 99 Jahre ein Nichts. Das große China kann seelenruhig warten, bis der Pachtvertrag von 1898 abgelaufen ist. „Abtretung auf ewig“ hin oder her – ohne die „New Territories“ sind Kowloon und Victoria nicht lebensfähig. Die Trinkwasserreservoirs liegen dort; Elektrizitätswerke; Wohnblöcke für Millionen Menschen.

Ausgerechnet die „Eiserne Lady“ Margaret Thatcher sieht das ein. 1982 hat die Premierministerin noch 247 Soldaten, sieben Schiffe, zehn Flugzeuge, 24 Hubschrauber und zweieinhalb Milliarden Pfund verfeuert, um im Falklandkrieg eine vornehmlich von Schafen bewohnte britische Kolonie in der Obhut des Mutterlandes behalten zu können. Doch eine echte Staatsfrau weiß auch, dass einen Krieg nur anfangen darf, wer Grund zu der Annahme hat, ihn gewinnen zu können.

Wie lange Hongkong gegen eine starke Armee standhalten könnte, hat sich im Dezember 1941 gezeigt, als die Japaner vor den Toren standen: Bis zur Kapitulation brauchte es 17 Tage. Was daher 1984 als „Gemeinsame Erklärung“ unterzeichnet wird (nicht etwa in London, sondern in Peking), ist kein Ergebnis gleichberechtigter Verhandlung. Schon Paragraph 1 zeigt, wer das Sagen hat: „Die Volks-republik China [...] erklärt, dass sie entschieden hat, mit Wirkung vom 1. Juli 1997 die Ausübung der Herrschaft über Hongkong wieder aufzunehmen.“

Am Abend nach Chris Pattens „Last Post“ im Government House treffen sich die Delegationen beider Länder zum offiziellen „Handover“. Margaret Thatcher ist gekommen, auch ihr Amts-Nach-Nachfolger Tony Blair. Victorias Ur-Ur-Enkelin Elizabeth hat Thronfolger Charles als Vertreter entsandt.

Das 21. Jahrhundert (von dem manche sagen, es werde „das chinesische“ sein) wirft seine Schatten voraus: Der Staatswechsel gerät zum gezwungenen, militärisch-technischen Massenspektakel mit gebrüllten Kommandos und Marsch-tritten in einer Messehalle mit mieser Akustik. Die Flaggen hängen an Masten mit eingebautem Ventilator, so dass sie flattern wie hysterische Taschentücher.

Das Königreich werde die Geschicke der Stadt auch in Zukunft „sehr genau verfolgen“, sagt Prinz Charles in seiner Abschiedsrede. Es ist eine diplomatische Umschreibung für: Wir haben hier nichts mehr zu melden, und wir wissen es. Dann gehen Chris Patten und der Fürst von Wales gemeinsam an Bord der königlichen Yacht „Britannia“; sie hat noch fünfeinhalb Monate, bevor Tony Blair sie wegsparen wird. Langsam gleitet das Schiff aufs nächtliche Meer hin-aus. Die letzte Perle ist aus der Krone des Empire herausgebrochen.

Kleine Felsen als verbliebene Kolonie

„Ein Land, zwei Systeme“ war die Zauberformel der „Gemeinsamen Erklärung“: Noch bis 2047 darf Hongkong seine kapitalistische Wirtschafts-ordnung behalten. Inzwischen ist das Makulatur – wenn auch ganz anders als befürchtet. Schon 1992 erklärte Chinas starker Mann Deng Xiaoping: „Lasst uns hunderte Hongkongs bauen!“. Genau so ist es gekommen. Wenn die Stadt vom „Kommunismus“ noch etwas zu befürchten hat – dann höchstens, dass er sie an Globalisierung überflügelt.

Die Briten hingegen machen es andersherum und erklären sich selbst zum Sonderbezirk am Rand eines Kontinents. Die noch verbliebenen Kolonien sind kleine Felsen im Ozean, die niemanden faszinieren außer Steuer-beratern; Chris Patten leitet eine Kommission zur Reform der Medien des Vatikans.

Stilvolle Abschiede mit getragener Musik und symbolischen Zeremonien sind aus der Mode; wenn die Briten heute patriotische Spektakel pflegen, tun sie es mit ratternden Spitfire-Jagdflugzeugen. Nicht nur der Brexit zeigt, nach welcher Zeit sich die Inselbewohner inzwischen zurückzusehnen scheinen: Auf dem 2016 eingeführten neuen Fünf-Pfund-Schein prangt das Porträt des Kriegsherrn Winston Churchill.

Ein Volk, das 500 Jahre lang den Erdball umsegelte, scheint sich von Feinden umgeben zu sehen und auf seiner Insel einigeln zu wollen, ohne lästige Leute von anderswo. Ohne Beziehungen zu den vielen fremden Welten auf der einen Erde, auf der die Sonne nie untergeht – Beziehungen, die (selbst Kipling schrieb es) beiden Seiten nützlich sein können. Die Isolationisten haben Kipling nicht zu Ende gelesen.

Der Satz vom Osten und vom Westen geht nämlich noch weiter. But there is neither East nor West, Border, nor Breed, nor Birth, / When two strong men stand face to face, though they come from the ends of the earth! „Doch zählen weder Ost noch West, Erziehung, Geburt oder Geld, wenn zwei starke Menschen ins Antlitz sich sehen, und käm' sie vom Ende der Welt.“ Es scheint der Westen zu sein, der heute keine Lust mehr dazu hat. East is east, and west is west. And never they'll meet again.

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