Missbrauchsskandal an Schulen und Internaten Verstümmelungen der Seele

Bonn · Sechs Jahre sind vergangen, seit der Missbrauchs-Skandal in Schulen und Internaten bundesweit bekannt wurde. Wo stehen die einstigen Protagonisten der Aufklärung heute?

 Die Sprachlosigkeit der Opfer: Demonstration vor dem Verwaltungsgericht Köln im September 2012.

Die Sprachlosigkeit der Opfer: Demonstration vor dem Verwaltungsgericht Köln im September 2012.

Foto: Ebba Hagenberg Miliu

Die Opfer: Kämpfen jene, die das Unfassbare laut und deutlich aussprachen, die den Mut fanden, sich vor die laufenden Kameras zu stellen, immer noch um Anerkennung?

Jene Opfer, die nicht im Schutz der Anonymität verharrten wie die meisten Betroffenen: Sind sie endlich von ihren Gespenstern befreit?

Und was ist mit den Tätern? Sie sind inzwischen größtenteils verstorben. Und die Mitwisser, Mitverantwortlichen und Erklärer? Stehen sie zu dem, was geschah? Einige Beispiele.

Der Unbelehrbare

Es ist ein Monster von Buch. Fast 1400 Seiten dick. Es hat sich auf dem Markt breit gemacht, um all das zu überdecken, was je über den Missbrauchsskandal, vor allem über den an der Odenwaldschule, dieser einst heiligen Schmiede der Reformpädagogik, geschrieben wurde. Oder, wie der Autor Hartmut von Hentig wohl urteilen würde: was je unberechtigt an Jauche über deutsche Eliteschulen gegossen wurde.

Mit 90 Jahren hat der einst gefeierte Pädagoge den Faden der Rechtfertigung für die kriminellen Taten seines Lebensgefährten Gerold Becker noch einmal aufgenommen. Unter dem Titel „Noch immer. Mein Leben“ ist dabei ein, wie Kritiker urteilen, Wust eitler Verdrängungskunst herausgekommen. Man wirft dem inzwischen verstorbenen Becker hundertfachen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen vor – verübt in den Jahren von 1969 bis 1985.

Noch immer schützt Hartmut von Hentig seinen verstorbenen Lebenspartner Gerold Becker – vielleicht auch, um sein eigenes Lebenswerk nicht zu gefährden. Die Aufklärer des Skandals werden in von Hentigs Augen zu Jägern, er selbst der unschuldig Gejagte, der sich „Gehässigkeit einerseits und grober journalistischer Ungenauigkeit“ erwehren müsse: „Missbrauchte Arglosigkeit – ich gehe in die Falle“, heißt ein Kapitel seines Buches.

Damit degradiert der alte Mann die missbrauchten Schüler zu perfiden Verführern und macht sie so ein weiteres Mal zu Opfern. Wie Hohngelächter muss dieses Buch auf Betroffene wie Adrian Koerfer wirken – oder auf Andreas Huckele, der unter dem Pseudonym Jürgen Dehmers sein Leid im Buch „Wie laut soll ich denn noch schreien?“ niederschrieb.

Der Enttäuschte

„Wir widersprechen Hartmut von Hentig in aller Deutlichkeit und Schärfe“, sagt Adrian Koerfer im Gespräch mit dem General-Anzeiger. Der heute 60-Jährige ist selbst vielfaches Becker-Opfer und gibt den Fällen seit 2010 öffentlich ein Gesicht. Man habe das Buch vergeblich zu verhindern versucht, erklärt Koerfer im Namen der IG Frostschutz – Interessengemeinschaft zur Aufarbeitung der Verbrechen.

Über Jahre hinweg hatte Koerfer als Vorsitzender des Vereins Glasbrechen jeglichen Vertuschungsbemühungen unnachgiebig Paroli geboten. Nach dem Aufflammen des Skandals vor sechs Jahren hatte der an sich scheue Kunsthändler klirrend das dicke Glas der Verdrängung zerbrochen, das um die Gewalt-taten entstanden war. 2016 stehen die Zeichen offenbar auf Frostschutz, also darauf, zu verhindern, dass schon Erreichtes wieder erstarrt, das Rad gar zurückgedreht werden könnte.

„Wir sind noch nicht weit gekommen. Die Sprachlosigkeit der Verantwortlichen macht uns Opfer sprachlos“, hat Koerfer im vergangenen Jahr in die Mikrofone der Fernsehreporter gesagt. Da war er gerade in den Betroffenenrat beim unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs geholt worden. Nun entfacht der neue Wälzer des alten Unbelehrbaren die Wut neu.

Dabei sei doch alles bewiesen: „Die Mitarbeiter um Gerold Becker haben Hunderte von Kindern und Jugendlichen aus der jeweils möglichen Lebensbahn gerissen, teilweise mörderisch vernichtet, teilweise seelisch verstümmelt, teilweise lebensuntauglich gemacht“, so Koerfer. Und jetzt komme dieser „greise alleinstehende Rechthaber“, verkläre Missbrauchsverhältnisse zu Liebes-beziehungen und leugne die pathologische Kinderschändung. Gut sechs Jahre nach Skandalbeginn finde die Strategie der Täter-Opfer-Schuld-Umkehrung also wieder statt. Die Enttäuschung sitzt tief bei Adrian Koerfer.

Die Kämpferin

Die Berlinerin Angelika Oetken tritt auch noch gegenwärtig auf Internetplattformen oder im Fernsehen zum Thema Missbrauch für die Betroffenenrechte ein: unbeirrt und kompromisslos, fast ohne Deckung und damit verwundbar. Schonungslos outet sich die 52-jährige Angelika Oetken: Sie wurde als Kind in der Familie sexuell missbraucht.

Die Ergotherapeutin engagiert sich ehrenamtlich als Sprecherin des Betroffenenbeirates sexueller Missbrauch und auch beim Ergänzenden Hilfesystem für Missbrauchsopfer des Fonds Sexueller Missbrauch. „Ich beschäftige mich mit der Frage, welche sozial stabilisierenden Zwecke das bislang übliche Verdrängen und Vertuschen der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen hat“. Denn sonst, so schlussfolgert Angelika Oetken, hätte sich die Kultur der Tabuisierung und der Opferbeschämung doch nicht über einen so langen Zeitraum halten können.

Die Kämpfernatur lässt einfach nicht locker. „Ab und an müssen wir energisch intervenieren; zum Beispiel, wenn täternahe Kreise versuchen, jegliche wirksame Initiative zu unterlaufen, zu okkupieren oder zu sabotieren“, so Oetken im Gespräch mit dem General-Anzeiger.

Dagegen könne sie als Einzelperson wenig ausrichten. Aber gemeinsam mit Betroffenen aller Gruppierungen fühlt sie sich stark. „Wir müssen doch unseren Mitmenschen und den politisch Verantwortlichen Wege aufzuzeigen, wie man Kinderschutz und Opferorientierung auf unkomplizierte Weise in den gesellschaftlichen Alltag integrieren kann.“ Oft sei dazu nur ein Wechsel der Perspektive notwendig.

Die neue Koalition

Es ist die wohl erstaunlichste Achse der Versöhnung, die die schier endlose Geschichte der deutschen Missbrauchsaufklärung Anfang 2016 plötzlich völlig neu sortiert hat: Norbert Denef, Vorsitzender des Vereins netzwerkB, und Jesuitenpater Klaus Mertes standen lachend zusammen vor dem Dom von Sankt Blasien.

„Wir wollen ein Zeichen setzen“, sagte Denef. Der 67-Jährige, der als Messdiener und in der Familie sexuellen Missbrauch erlebte, gilt hierzulande als unerbittlicher Verfechter der Betroffenenrechte. Und jetzt gründete er eine Opferstiftung – gemeinsam mit einem Jesuitenvertreter. „Es ist wichtig, dass die Initiative für Versöhnung von der Opferseite kommt“, erwiderte Mertes, inzwischen in Sankt Blasien Kollegsrektor. 2010 war er am Canisius-Kolleg, wo der Skandal entflammte, in den medialen Fokus gelangt. Der 61-Jährige fehlt seither auf keinem Podium zum Thema.

Die Wochenzeitung Die Zeit überlässt ihm, dem Vertreter einer sogenannten Täterorganisation, zu allen Jahrestagen und Ereignissen gleich vollständig die Berichterstattung. Mehr Ruhm geht kaum. Da können Opferverbände noch so murren: Ein Jesuit ist in Deutschland zum Gesicht der Aufarbeitung geworden. Und sah dieser Jesuit plötzlich dort vor dem Dom seinem einst ärgsten Kritiker nicht sogar täuschend ähnlich?

Dabei hatte Denef 2010 auf dem Evangelischen Kirchentag für einen Eklat gesorgt, als er den Podiumssprecher Mertes anblaffte: „Hören Sie auf mit diesem Affentheater. Nicht Sie haben das Schweigen über den Missbrauch gebrochen; es waren die Opfer selbst.“ Nun also, O-Ton Denef, „Versöhnungsakt in Sankt Blasien“. Die Opfer kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Zwei Persönlichkeiten, die neue Wege gehen und Außergewöhnliches leisten“, jubelten die einen. Andere schimpften: „Was für eine peinliche Aktion.“

Der erste Mutige

Der Schauspieler Miguel Abrantes Ostrowski war 2004 und 2010 der erste Schüler des Bonner Aloisiuskollegs, der öffentlich zum Missbrauch Stellung bezog. Der heute 44-Jährige führt momentan im Münchener Akademietheater Regie in Feydeaus abstruser Komödie „Klotz am Bein“: 1000 Einfälle pro Sekunde, zweieinhalb Stunden Tempo, lobt die Kritik.

Zum Lachen ist es Abrantes aber wahrlich nicht immer: In Alumni-Foren ist der Exzentriker als Netzbeschmutzer verrufen. Ja, er stehe zu seinem Schlüsselroman „Sacro Pop“, der schon 2004 beschrieb, wie der vormalige Internatsleiter seine Sucht nach nackten Jungenkörpern befriedigte. „So ziemlich jeder meiner damaligen Schulfreunde brach den Kontakt zu mir ab. Jeder war besorgt, dass ich ihnen ihre so beneidenswerte jesuitische Vergangenheit zerstören würde, die ja schließlich die Eintrittskarte zu einem erfolgreichen Leben ist“, sagt Abrantes. Zu einer angesetzten Lesung wurde er damals aus den Godesberger Kammerspielen wieder ausgeladen.

2010 wurde der Skandal offenbar – und Miguel Abrantes Ostrowski war sofort wieder mittendrin. Weil er sich outete. Weil er in Fernseh-Talkshows und Zeitschriften sein Gesicht zeigte. Das sei die beängstigendste und gleichfalls glücklichste Zeit seines Lebens gewesen. „Zuerst hatte ich die Hosen voll, mit nächtlichen Schweißausbrüchen und dem ganzen Programm. Keiner wusste ja, wie die Geschichte enden würde – niemand hatte sich bisher mit diesen Despoten angelegt. Aber ich habe gewonnen.“

Doch der Preis ist bis heute hoch

Zum einen der Preis für den Vertrauensverlust in der Jugend, als er Opfer wurde, und zum anderen für den Tabubruch, als das einstige Opfer auspackte. Der Preis ist vor allem die Bindungsangst, die Unfähigkeit, Nähe zuzulassen. Abrantes: „Bis heute gelingt es kaum.“

Abrantes, Mertes und Oetken schrieben Beiträge im Buch von GA-Autorin Ebba Hagenberg-Miliu: Unheiliger Berg. Kohlhammer, 288 S., 29,90 Euro

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