Bob Dylan wird 75 Und ewig rollt der Stein

Mit seinem Song „Like A Rolling Stone“ hat sich Bob Dylan einen festen Platz in der Musikgeschichte gesichert. Und mit vielen anderen unauslöschbare Spuren hinterlassen. Am Dienstag feiert der Musiker, der sich seit 1988 auf einer „Never ending Tour“ befindet, seinen 75. Geburtstag.

 Typische Pose: Der fotoscheue Bob Dylan bei einem Konzert 2012 in Benicassim (Spanien) auf.

Typische Pose: Der fotoscheue Bob Dylan bei einem Konzert 2012 in Benicassim (Spanien) auf.

Foto: dpa

Im Frühjahr 1965 wollte Bob Dylan kein Folkstar mehr sein. Er reiste gerade mit Gitarre und Mundharmonika durch England – Sheffield, Liverpool, Leicester, Birmingham, Newcastle, Manchester, London –, aber die Tournee ödete ihn unglaublich an. „Jedes Konzert war gleich: erste Hälfte, zweite Hälfte, zwei Zugaben, dann rannte ich raus und musste mich die ganze Nacht um mich selbst kümmern“, beschrieb Dylan 1966 das Hamsterradleben, das er führte. „Ich verstand das nicht: Ich bekam stürmischen Applaus, und es bedeutete mir nichts. Das erste Mal schämte ich mich nicht. Aber dann machte ich mich nur noch selbst nach, es war nur noch ein Muster.“

Der am 24. Mai vor 75 Jahren in Duluth, Minnesota, im Herzen der amerikanischen Provinz geborene Robert Allen Zimmermann hatte alles erreicht, was ein 24-jähriger Folksänger erreichen konnte, er war bekannter als sein großes Vorbild, die Folklegende Woody Guthrie, hatte Songs wie „Blowin' In The Wind“, „Don’t Think Twice, It’s All Right“, „The Times They Are a-Changin’“ und „Mr. Tambourine Man“ geschrieben. Und war doch an einem Tiefpunkt angelangt. Das würde man neudeutsch Burnout nennen.

Doch Dylan wusste sich selbst zu therapieren. Er rotzte den ganzen Ekel, den seine Situation ihm bereitete, auf viele, viele Seiten Papier. „Ich schrieb es, nachdem ich aufgehört hatte“, sagte Dylan über seine Krise. „Ich hatte wirklich aufgehört zu singen und zu spielen, und dann schrieb ich diesen Song, diese Geschichte, dieses lange Auskotzen, ungefähr zwanzig Seiten lang.“

Diese Prosaergüsse, die sich in Dylans Erinnerung an anderer Stelle auf realistischere, aber immer noch stattliche sechs Seiten reduzierte, konzentrierte er schließlich noch einmal. Auf vier Strophen und einen Refrain: Es entstand „Like A Rolling Stone“, ein Song, der auf die Popmusik einen ähnlichen Einfluss haben sollte wie Richard Wagners revolutionärer Tristan-Akkord auf die Harmonik der klassischen Musik des 20. Jahrhunderts. Der Song ist nicht das Ergebnis eines minuziös ausgeheckten Plans, nicht die Vertonung eines fertigen Poems, sondern eines Prozesses, bei dem Text und Musik eine amalgamierte Einheit bilden.

Nur mit Mundharmonika und Gitarre wäre „Like A Rolling Stone“ nicht denkbar. Dylan brauchte eine Rockband, um dem beißenden Spott, dem bitteren Sarkasmus, mit der er die Adressatin seiner Zeilen überwirft, mit Leben zu füllen. Der Gitarrist Michael Bloomfield und Al Kooper an der Orgel waren die wichtigsten Protagonisten in der Aufnahmesession des 15. Juni 1965. Dabei war Kooper gar kein genuiner Keyboarder. „Ich schaffte es gerade so, mich durch die Harmonien zu tasten, wie ein kleines Kind im Dunkeln, das den Lichtschalter sucht“, zitiert Dylan Biograf Paul Williams in seinem Buch „Like A Rolling Stone“ den Musiker.

Liebeserklärung an den Klassiker

Zu Dylans 70. Geburtstag vor fünf Jahren hat U2-Frontmann Bono für den „Rolling Stone“ eine wunderbare Liebeserklärung an den Klassiker formuliert, der Dylans Album „Highway 61 Revisited“ eröffnet und der in einem Ranking des Blattes die Liste der wichtigsten Songs der Rockgeschichte anführt: „Ich liebe es, ein Lied zu hören, das alles verändert hat“, schreibt Bono über „Like A Rolling Stone“: „Das ist der Grund, warum ich in einer Band spiele: David Bowies 'Heroes', Arcade Fires 'Rebellion (Lies)', Joy Divisions 'Love Will Tear Us Apart', Marvin Gayes 'Sexual Healing', Nirvanas 'Smells Like Teen Spirit', Public Enemys 'Fight the Power'. Aber in der Krone dieses dysfunktionalen Stammbaums sitzt der König des beißenden Spotts, der Jongleur von Schönheit und Wahrheit, der Willy Shakespeare unserer Zeit in einem gepunkteten Hemd.“

Es macht Bob Dylans Ausnahmequalität als Künstler aus, dass er diesen Song künstlerisch überlebte, dass die herausragende Qualität ihm nicht zur Bürde für sein zukünftiges Schaffen wurde. Schon auf „Highway 61 Revisited“ finden sich einige Titel, die sich neben dem revolutionären Eingangsstück behaupten können. Da ist die „Ballad Of A Thin Man“; sie erzählt die sehr surreale Geschichte des undurchsichtigen Mr. Jones. John Lennon hat diese Figur in seinem „Yer Blues“ aufgegriffen, der auf dem „White Album“ der Beatles erschien. Er fühle sich so lebensmüde („suicidal“) wie „Dylan's Mr. Jones“, schreit Lennon. Es ist ein Indiz dafür, wie stark der Einfluss Dylans auf seine Kollegen war.

75 Jahre Bob Dylan
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Tatsächlich wurden die Texte der Beatles durch die Dylan-Erfahrung vielschichtiger. In der Pop-Musik konnte man plötzlich mehr zum Ausdruck bringen als „She Loves You“. Ob Lennon die surreale Zirkusstimmung in dem Song „Being for the Benefit of Mr. Kite!“, der 1967 auf der LP „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ veröffentlicht wurde, hätte evozieren können, ohne Dylans von düsterer Traumlogik geprägte „Desolation Row“ gekannt zu haben? Vielleicht nicht.

Bekannter als das Original

Die Qualität, die dichte poetische Atmosphäre seiner Songs ist es auch, die Heerscharen von Musikern animierte, eigene Versionen zu erstellen. Manche wurden berühmter als das Original. „Quinn the Eskimo (The Mighty Quinn)“ zum Beispiel nahm Dylan während der „Basement Tapes Sessions“ 1967 auf, zu denen er sich nach der Genesung von einem schweren Motorradunfall ein Jahr zuvor mit seiner Begleitband „The Band“ regelmäßig in der Nähe von Woodstock getroffen hatte, verwendete es aber zunächst nicht weiter.

Ein Jahr später, 1968, veröffentlichte die britische Manfred Mann's Earth Band den Titel und schoss damit an die internationalen Chartspitzen. Ein anderer Fall: Nachdem Jimi Hendrix' „All Along The Watchtower“ durch sein Gitarrenspiel psychedelisch veredelte und es zu einem seiner größten Hits machte, griff Dylan selbst bei Live-Aufführungen die genialischen musikalischen Anregungen des Kollegen auf.

Die eigenen Werke waren für Dylan eh nie in Stein gehauen. Seine Songs behandelt er fast wie Rohmaterial, mit dem er spielt, das sich weiterentwickelt, das er gern auch mal dekonstruiert. Man muss nur Aufnahmen von „Blowin' In the Wind“ von Anfang der 60er Jahre bis heute vergleichen.

Dylan will weder die Vergangenheit noch seine eigene Kunst konservieren, was für Fans immer wieder zum Problem werden kann. Diese Haltung ist Teil seiner Persönlichkeit. In D. A. Pennebakers Dokumentation „Don't Look Back“, die 1965 während der England-Tour entstand, wirkt er wie ein Einzelgänger, manchmal durchaus arrogant, sogar verletzend.

Verrat an den eigenen Wurzeln

Eingeschmeichelt hat er sich bei seinem Publikum nie. Im Gegenteil. Seine Fans haben es manchmal richtig schwer mit ihrem Idol. Zum Beispiel, als er am 25. Juli 1965 auf dem Newport Folk Festival zum ersten Mal mit einer Rockband auftrat. Die Puristen unter den Zuhörern empfanden dies als Verrat, als beschämende Kommerzialisierung der Kunst. Der Mann, der Anfang der 60er Jahre in New York zur neuen Ikone der Folkmusik und des politischen Protests aufgestiegen war, regelmäßig mit Joan Baez auftrat, verriet in ihren Augen seine eigenen Wurzeln.

Doch nach der deprimierenden England-Erfahrung und nach „Like A Rolling Stone“ war dies ein ebenso folgerichtiger wie unumkehrbarer Schritt. Selbst wenn spätere Alben wie das grandiose „Blood On The Tracks“ von 1975 und das nicht weniger starke „Desire“ von 1976 wieder stark akustisch geprägt waren und er mit dem Song „Hurricane“, in dem er die Geschichte des seiner Ansicht nach zu Unrecht wegen eines dreifachen Mordes inhaftierten schwarzen Boxers Rubin Carter erzählte, ein Gastspiel als politischer Protestsänger gab.

Der Song sollte tatsächlich die Freilassung Carters bewirken. Aber er besang auf „Desire“ auch seine Frau Sara, die Mutter seiner vier Kinder, mit poetischer Zärtlichkeit. Die zerbrechende Ehe konnten die Verse allerdings nicht kitten. Die vielleicht schwerste Prüfung legte der aus einem jüdischen Elternhaus stammende Dylan seinen Fans auf, als er Ende der 70er Jahre zum Christentum fand und dies in Alben wie „Slow Train Coming“ und „Saved“ auch musikalisch öffentlich machte. Sie zählen nicht zu seinen besten.

Aber Dylan, der immer schon gut darin war, sich zu wandeln und Krisen zu überleben, wandte sich nie ganz von seinem Publikum ab, hielt immer Kontakt. Seit 1988 befindet er sich auf seiner „Never ending Tour“, gibt jährlich rund 100 Konzerte rund um den Erdball. Sein immer leicht näselnder, oft schnarrender Gesangsstil ist mit der Zeit brüchig geworden. Daran stören sich die Fans jedoch nicht. Zumal er auch im Alter immer noch die Kraft aufgebracht hat, neue Meisterwerke zu schaffen.

Wenn man sich die Alben „Time Out of Mind“ (1997), „Love and Theft“ (2001) und „Modern Times“ (2006) anhört, muss man schon weit in die Karriere des Musikers zurückblicken, um eine ähnliche Dichte an großartigen Songs zu finden. Man kann es bedauern, dass er auf dem gestern erschienenen Album „Fallen Angels“ wie schon auf „Shadows In The Night“ von 2015 nur Cover-Versionen von Titeln anderer Autoren vorträgt. Doch selbst wenn Bob Dylan keine einzige eigene Zeile mehr schreiben würde, müsste sich die Menschheit vor dem verneigen, was er geschaffen hat.

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