Festival "Over the Border" Tausendfüßler und Schamanin

Bonn · Das Festival „Over The Border“ präsentiert Iiro Rantala in der Pauluskirche und eine afrikanischen Nacht wartet mit Awa-Ly und Inna Modja im Pantheon auf.

 Emotionales Spiel: Iiro Rantala in der Pauluskirche. FOTO: SCA

Emotionales Spiel: Iiro Rantala in der Pauluskirche. FOTO: SCA

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Jazz ist eine verkopfte, intellektuell-versnobte und völlig humorlose Angelegenheit für Menschen in schwarzen Rollkragenpullovern. Wer das glaubt, sollte ein Konzert des finnischen Komponisten und Jazzpianisten Iiro Rantala besuchen. Am vergangenen Freitag gab es dazu in der Pauluskirche (Friesdorf) im Rahmen des „Over The Border“-Music-Diversitiy-Festivals die Gelegenheit. Im Mittelpunkt der grandiosen One-Man-Jamsession standen nicht etwa Jazz-Standards, sondern Rantalas brillante Hommage an John Lennon, verewigt auf seinem aktuellen Soloalbum „My Working Class Hero“, sowie von der klassischen Musik inspirierte Arrangements (Bach, Bernstein, ein bisschen Sibelius) und eigene Kompositionen.

Jazzpuristen mag die Verbindung von Pop- und Jazzmusik suspekt erscheinen. Rantala hat da keinerlei Berührungsängste, im Gegenteil, das verdeutlichte er in seinen unterhaltsamen Zwischenmoderationen: Jede Musik, die uns berührt, ist es wert, gespielt zu werden. Harmonische und melodische Anreicherung des vorgegebenen musikalischen Materials, rhythmische Akzentuierung, Elemente der Minimal Music, starke perkussive Komponenten, äußerst variable Anschlagtechnik und gelegentlich experimentelle Handhabung des Yamaha-Flügels zeichneten die Musik und das Spiel Rantalas aus.

John Lennons Lieder und Botschaften

So erkannte man Hits wie „Norwegian Wood“, „Woman“ und „Just Like Starting Over“ durchaus wieder und nahm gleichzeitig eine neue bisher nur geahnte musikalische Qualität dieser Songs wahr. Bestes Beispiel: „Imagine“. Das Kitschpotenzial der Hymne an eine freie und friedliche Gesellschaft ist groß. Rantala entging dem, indem er den Song einerseits radikal bis in die kleinsten musikalischen Strukturen zerlegte, andererseits die Botschaft des Liedes nie infrage stellte.

Musikalisch-emotionaler Höhepunkt im ersten Teil war Rantalas Komposition „Tears for Esbjörn“, sein großartiger Tribut an den verstorbenen schwedischen Jazzmusiker Esbjörn Svensson. Der Intensität des gut zweistündigen Konzerts konnte sich niemand entziehen. Als ob ein rhythmisch absolut versierter Tausendfüßler über die Tasten tanzt – Rantala brillierte auch als Interpret in jeder Hinsicht. Jazz ist bei Iiro Rantala eine mitreißende und emotionale Angelegenheit. Und eine angenehm unprätentiöse Einladung, sich auf Jazz-Musik einzulassen, die man sich nicht entgehen lassen sollte. Begeisterte Zuhörer, frenetischer, anhaltender Beifall und zwei Zugaben.

Der WDR hat das Konzert aufgezeichnet. Der Sendetermin wird demnächst im Internet bekanntgegeben.

Eines muss man dem „Over The Border“-Festival lassen: Wahrscheinlich noch nie zuvor haben in Bonn so viele internationale Künstler in so kurzer Zeit derart überragende Musik mit aufrüttelnden gesellschaftspolitischen Botschaften verknüpft, haben mit tiefer Betroffenheit auf Missstände aufmerksam gemacht und doch die Hoffnung auf eine bessere Welt nicht aufgegeben. So auch im Pantheon, in dem mit Awa-Ly und Inna Modja zwei stilistisch völlig verschiedene Sängerinnen für einen bemerkenswerten Abend sorgten. Hier eine senegalesische Pop-Schamanin mit phänomenaler Soul-Stimme, die am Schicksal der Flüchtlingsopfer Anteil nimmt, dort eine malische Techno-Queen mit afrikanischen Blues-Anleihen, die die weibliche Genitalverstümmelung am eigenen Leib erfahren hat und diese brutale Verstümmlung auch in einem Song thematisiert. Ein starker Abend, an dem man nur auf eines hätte verzichten sollen: Stühle.

Während der intensive Songwriter-Sound Awa-Lys zu einem Sitzkonzert noch durchaus passte, wäre bei dem hämmernden Disco-Sound Inna Modjas eine Tanzfläche essentiell gewesen. Gleich zwei DJs standen auf der Bühne an Laptops, dumpfe Bässe über allerlei Effektspielereien setzend – dazu ein virtuoser Gitarrist und Armbeugen-Trommler sowie eben die starke Sängerin mit dem Afro, deren Verse in der afrikanischen Sprache Bambara gehalten waren. Immerhin ließ Modja sich des Öfteren über die Hintergründe aus, vermittelte ihre Botschaften und bemühte sich offenbar, den Schmerz und das Leid wegzutanzen.

Zuvor hatte Awa-Ly das Publikum bereits in ihren Bann gezogen. Die Weltenwanderin mit der mystizistischen Ader erwies sich als brillante Erzählerin, deren samtig-kraftvolles Organ meisterhaft auf der Klaviatur der Emotionen spielte. Mal gurrend, mal rockend, immer bewegend. Besonders intensiv wurde es, als die 40-Jährige jenen ein Lied widmete, die „hoffentlich in den Tiefen des Mittelmeeres in Frieden ruhen, gestorben aufgrund eines Mangels an Mitgefühl“. Ein eindringlicher Appell, der an keinem einfach so vorbeigeht. Am wenigsten an Awa-Ly selbst, die von den eignen Worten betroffen schien und sich erst einmal ein paar Tränen wegwischen musste, bevor sie „Here“ anstimmen konnte. Schnell hatte sie sich wieder gefangen, wendete sich anderen Songs zu, die lebensbejahender waren – doch ihre Worte wirkten fort, ebenso wie die von Inna Modja.

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