Pulitzer-Preisträger Sklaverei-Roman über ein verborgenes Gleis

Bonn · Colson Whiteheads fulminantes neues Buch "Underground Railroad“ ist auf bedrückende Weise aktuell.

 Illusion Gerechtigkeit: Der US-Schriftsteller Colson Whitehead.

Illusion Gerechtigkeit: Der US-Schriftsteller Colson Whitehead.

Foto: Hansa Verlag

Wenn schwarzes Blut Geld war, verstand sich der kluge Kaufmann darauf, zur Ader zu lassen.“ Und wie sie das konnten, die Sklavenhalter und Baumwollbarone der Südstaaten. Colson Whiteheads Roman „Underground Railroad“ setzt freilich nicht ihnen, sondern den Drangsalierten ein Denkmal, deren Zahl man im Amerika von 1865 auf vier Millionen schätzt.

Eine von ihnen ist die halbwüchsige Cora, gebrandmarkt schon deshalb, weil ihrer Mutter Mabel die Flucht von der Plantage eines Menschenschinders glückte. Auch Cora ist so halsstarrig, dass sie Peitschenhiebnarben fast wie Ehrenzeichen sammelt. Doch irgendwann ist es genug, und sie flieht aus Georgia. Was den Ertappten droht, weiß sie genau, denn einer von ihnen wurde gerade nach tagelanger Folter zu Tode geröstet.

Whitehead („Zone One“) steigt mit schonungsloser Härte ein. Er benennt die Grausamkeiten fast so beiläufig, wie sie damals geschahen, doch er springt dann vom blutigen Boden der Tatsachen ins Reich der Fiktion.

Gewiss, es gab im Süden jenes geheime Fluchtrouten-netzwerk, über das Sklaven von ihresgleichen und mutigen Weißen in die „Free States“ (ohne Leibeigenschaft) geschmuggelt wurden. Tatsächlich war der Name „Underground Railroad“ aber nur eine im Eisenbahnzeitalter gewählte Metapher. Der Autor nimmt sie wörtlich. Er ersinnt ein Tunnel- und Schienensystem mit „Bahnhöfen“ in Kellern von Farmhäusern oder Schächten von Fabriken – verborgene Gleise, auf denen Draisinen oder dampfschnaubende Ungetüme in die Freiheit des Nordens fahren.

Dieser ebenso riskante wie fantastische Verstoß gegen das historische Reinheitsgebot steigert imposant die Bildkraft des Stationendramas. Coras erster Halt: das vermeintlich liberale South Carolina. Schule statt Prügel, doch „es war immer noch der Süden, und der Teufel hatte lange, geschickte Finger“.

Vor zynischen Medizinern und ihren Experimenten hilft wieder nur die Flucht – vom Regen in die Traufe. Denn in North Carolina „gab es die schwarze Rasse nur an den Enden von Stricken“. Dieses Kapitel, in dem Cora schreckensstarr vom Dachboden ihrer weißen Fluchthelfer die Exzesse in der Stadt beobachtet, ist vielleicht das bedrückendste des Buchs.

Dauerstress von Hoffen, Bangen und Verzweifeln

Der afroamerikanische Autor muss gar nicht viel psychologisieren, allein der Dauerstress von Hoffen, Bangen, Verzweifeln und neuem Hoffen macht uns zu Coras Komplizen. Und mit dem Sklavenjäger Ridgeway ist ihr ein intelligentes, fast charismatisches Monster dicht auf den Fersen. Doch umgekehrt bündelt sich in dieser unvergesslichen Heldin die ganze Überlebenskunst der Verfolgten. Immer wieder schlägt Cora ihren Häschern ein Schnippchen, ohne dass dieses schelmische Moment die Tragik der Story verriete.

Zudem wirft der aktuelle Pulitzer-Preisträger Schlaglichter auf die ideologischen Fronten der damaligen Zeit: hier die Abolitionisten, die Leibeigenschaft für Sünde hielten – dort die Plantagenbesitzer, die durchsetzten, dass selbst in die „Free States“ entkommene Sklaven dort gejagt werden durften.

Dem fiktiven Abolitionisten Elijah Lander schreibt der Autor eine flammende Rede. Aufgrund der Gier der Weißen sei Amerika „eine Illusion, die größte von allen. Wenn es irgendeine Gerechtigkeit auf der Welt gibt, dürfte diese Nation nicht existieren, denn ihre Grundlagen sind Mord, Diebstahl und Grausamkeit. Dennoch sind wir hier.“

Im fulminanten Finale steht Cora vor einem Geistertunnel, der in den Tod oder in den Norden führt. Und kein Zweifel, diese unterirdische Gegenwelt, gebaut um zu retten, statt zu unterdrücken, ist für Colson Whitehead das wahre Amerika. „Immer wenn man über den Rassismus der Vergangenheit schreibt, schreibt man auch über den Rassismus der Gegenwart“, hat der Autor erklärt – Charlottesville gibt ihm grausam recht.

Colson Whitehead: Underground Railroad. Roman, aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Carl Hanser Verlag, 350 S., 24 Euro.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Held ohne Heldenpose
“One Life“ mit Anthony Hopkins Held ohne Heldenpose
Zum Thema
Aus dem Ressort