Verdi-Festival in Parma Sextremistinnen auf der Opernbühne

Das noch vor wenigen Jahren kaum noch beachtete Verdi-Festival in Parma ist wieder im Fokus der Musikliebhaber angekommen. Diesmal beeindruckt vor allem Graham Vicks Inszenierung des „Stiffelio“.

 Statt einer Bühne gibt es Podeste mitten im Zuschauerraum: Das Publikum gerät in hautnahen Kontakt zu den Aufführenden.

Statt einer Bühne gibt es Podeste mitten im Zuschauerraum: Das Publikum gerät in hautnahen Kontakt zu den Aufführenden.

Foto: Roberto Ricci

Seitdem Anna Maria Meo neue Direttore generale des Teatro Regio in Parma ist, weht hier ein neuer Wind. Mit der Schlamperei und dem Schlendrian der vorangegangenen Jahre ist es vorbei. Jetzt werden ungewöhnliche Inszenierungen gewagt, hervorragende Sänger verpflichtet. Das Programm für das folgende Jahr steht jeweils fest, weiß man doch, dass die vielen Besucher aus dem Ausland, besonders aus Deutschland, die Reise nach Parma oft lange vorher planen.

Die umliegenden Städte, also die „Terra di Verdi“, werden mit einbezogen, es gibt ein umfangreiches Nebenprogramm, das in schrillen Farben als „Verdi Off“ auf zahlreichen Plakaten überall in der Stadt auf sich aufmerksam macht, und mit dem Teatro Farnese wurde im letzten Jahr sogar ein aus dem 17. Jahrhundert stammendes, 3000 Plätze umfassendes Theater reaktiviert. Mit einem Wort: Das noch vor wenigen Jahren kaum noch beachtete Verdi Festival ist wieder im Fokus der Musikliebhaber angekommen.

Das riesige Teatro Farnese für eine Operninszenierung zu nutzen, ist eine gewaltige Herausforderung für jeden Regisseur. Da muss man sich schon recht ungewöhnliche Dinge einfallen lassen, und auf unkonventionelle Ideen ist der britische Regisseur Graham Vick für seine Produktion von Verdis „Stiffelio“ in der Tat gekommen. Es beginnt damit, dass man beim Kauf der wahrlich nicht billigen Tickets mitgeteilt bekommt, man habe, wie alle anderen, nur einen „Posto in piedi“, einen Stehplatz. Unter Pssst-Gezischel (die Ouvertüre wird bereits gespielt!) begibt man sich in die Mitte des Teatro, wird von den Sängern mit Handschlag begrüßt.

Das Publikum versammelt sich um vier Podeste, auf denen die Mitwirkenden platziert werden. Das Drama um die Ehebrecherin Lina, die sich von dem Galan Raffaele verführen lässt und so nicht nur ihren Ehemann und ihren Lover, sondern auch ihren Vater und sich selbst ins Verderben stürzt, kann beginnen! Auf megagroßen, auf den Rängen ausgebreiteten Plakaten wird die Familie als Institution gepriesen, die es zu verteidigen gilt: Famiglia, noi la difendiamo! Schließlich geht es in dieser Oper ja um einen Pfarrer der Ahasverianer, die sich angeblich für die Familie einsetzten. Auch ein Plädoyer für die Meinungsfreiheit ist zu lesen: Difendiamo la Libertà di Opinione!

Dann aber, bald nach Beginn der Oper, entsteht Unruhe, da eine kampfbereite Gruppe von Femen-Mitgliedern auftaucht, ein großes Poster „I'm a woman, not a womb!“ (Ich bin eine Frau, keine Gebärmaschine) anbringt und unter heftigen Kämpfen abgeführt wird. Die 2008 in Kiew gegründete feministische Gruppe, die für ihre spektakulären und spontanen Aktionen gegen die sexuelle Ausnutzung und Erniedrigung der Frauen die Bezeichnung „Sextremismus“ verwendet, ist hier also integraler Bestandteil einer Opern-Inszenierung.

Diese und ähnlich tumultuöse Szenen sorgen für viel Lebendigkeit und Aufregung unter den Zuschauern, die sich frei bewegen dürfen und das auch tun. So will jeder möglichst nahe bei den Sängern sein, man geht von einem Podest zum nächsten, und wenn diese von den Bühnenarbeitern zu einer einzigen Spielfläche zusammengeschoben werden, muss abermals ein Weg durchs Publikum gefunden werden, mit viel action, versteht sich.

Natürlich wird der von Stankar getötete Ehebrecher Raffaele von einem starken Mann quer durch das Publikum getragen und vor einem großen Kreuz niedergelegt. Vor seiner Ermordung aber wird er mehrmals von Leuten, die sich nicht vom Publikum unterscheiden ließen, angespuckt und brutal niedergeschlagen. Jeder Zuschauer hat das Gefühl, mitten drin zu sein im Geschehen und somit eine gewisse Verantwortung zu haben für das, was passiert. Hautnah, in des Wortes eigentlicher Bedeutung, mit den Sängern in Kontakt zu sein, das ist sicherlich eine Erfahrung, die niemand missen möchte.

Zumal dann nicht, wenn die Besetzung so hervorragend ist wie in diesem „Stiffelio“, dessen Titelpartie von dem Tenor Luciano Ganci hinreißend schön gestaltet wird, mit fein austarierter Italianità. Maria Katzarava kann da als seine leidgeprüfte Ehefrau Lina durchaus mithalten. Ihr Lover Raffaele wird von Giovanni Sala viril und draufgängerisch interpretiert. Er fackelt nicht lange und reißt sich die Klamotten vom Leibe, wenn er sich Lina zu Willen machen will.

Und dann ist da noch der grobe, auf Familienehre versessene Stankar, Linas Vater. Francesco Landolfi macht aus ihm einen groben Klotz und liebevollen Vater, zu gleichen Teilen. Guillermo Garcìa Calvo führt das Orchester des Teatro Bologna mit sicherem Gespür für Nuancen und leidenschaftliche Ausbrüche durch eine an Wundern reiche Partitur. Der nur per Monitor hergestellte Kontakt mit den Solisten klappt hervorragend. Schwer zu begreifen, dass diese 1850, unmittelbar vor „Rigoletto“, komponierte Oper nicht häufiger gespielt wird.

Natürlich ist man auf den Schluss der Oper gespannt, denn wer Graham Vick kennt, weiß, dass die größte Provokation am Ende zu erwarten ist. So auch hier: Die Plakate, Tücher und Poster, die sich mit einem Bild von idealtypischen Eltern mit zwei Kindern für die Familie einsetzen, werden weggeräumt, und darunter sind eng umschlungene hetero- und homosexuelle Liebespaare sichtbar. Stiffelios kaputte Familie mag einen solchen Kommentar rechtfertigen. Das Plakat aber mit der Aufschrift „I'm a woman, not a womb“ ist noch immer zu sehen. Da hielt sich so mancher mit Beifall zurück. Schade, denn die Ausführenden hätten mehr Applaus verdient.

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