Eine Karnevalssitzung für seelisch Kranke Rezepte gegen Trübsinn

Karneval gilt als Hort der Heiterkeit. Bei der Sitzung der Bonner Caritas wird er zur Therapie für wunde Seelen. Psychisch Kranke, Mitarbeiter und Angehörige geben der fünften Jahreszeit einen ganz persönlichen Anstrich.

 Bunte Gesichter, Clowns und Luftballons: Auf den ersten Blick ist es eine Karnevalssitzung wie jede andere auch.

Bunte Gesichter, Clowns und Luftballons: Auf den ersten Blick ist es eine Karnevalssitzung wie jede andere auch.

Foto: Andreas Dyck

Nur wenige Schritte führen raus aus der Komfortzone. Hinaus in das Rampenlicht der Scheinwerfer, welches die tags zuvor aufgebaute Bühne in bunte Farben taucht. Noch ist der Blick angespannt und wechselt nervös von einer Seite zur anderen. Die Knie wirken weich, die Schultern sacken nach vorn. Gerhard Ulrich steht nicht alle Tage im Zentrum der Aufmerksamkeit. In wenigen Sekunden wird der 63-Jährige in das Licht und die Musik eintauchen. Aus den Boxen tönt der Partyhit Hulapalu von Schlagerstar Andreas Gabalier. Zögerlich tapst Ulrich mit rund einem Dutzend Mitstreitern hinter dem Vorhang hervor. Dann tritt die Verwandlung ein: Ein Lächeln umspielt die Lippen des psychisch erkrankten Mannes, als er die Schritte der einstudierten Choreografie abspult, seine über den Kopf gestreckten Hände im Takt der Musik wippen und er für den Moment ganz bei sich zu sein scheint. Für drei Minuten und acht Sekunden wird aus Gerhard Ulrich ein anderer Mensch.

Luftballons, Konfetti, Girlanden und Clownsmasken schmücken das katholische Pfarrzentrum in Pützchen. Was auf den ersten Blick wirkt wie eine gewöhnliche Karnevalssitzung, entpuppt sich auf den zweiten Blick als eine außergewöhnliche Veranstaltung, die in ihrer Art vielleicht einzigartig ist. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit feiern seelisch Kranke mit Angehörigen sowie Betreuern der sozialpsychatrischen Dienste bei der Bonner Caritas eine Karnevalssitzung. Von den Requisiten, Orden und der Verköstigung bis hin zum Bühnenprogramm machen Mitarbeiter und Klienten, wie die psychisch Erkrankten bei der Caritas genannt werden, alles selbst. Einander vertraute Hände schütteln, umarmen und grüßen sich. Es ist ein Familientreffen in intimer Eintracht.

Sie treten aus ihrem Schatten und werden sichtbar

Vor 23 Jahren ist Ulrich aus dem Elternhaus im Sauerland nach Bonn gezogen – in die Uniklinik auf dem Venusberg. „Wegen der Nerven“, sagt er. Bei der Caritas erfährt er Betreuung in einer Tagesstätte, hat jahrelang in der Küche mitgearbeitet. Inzwischen ist er in Rente. Der schüchterne Mann versteckt sich abseits der Bühne gerne hinter zwei Männern in karierten Hemden, die er aus der Tagesstätte kennt und mit denen er auf vergangenen Karnevalssitzungen der Caritas als Tanztrio aufgetreten ist. „Ich habe immer Lampenfieber“, murmelt er mit einem Achselzucken. „Irgendwann legt sich das dann wieder.“

Was für den Betrachter unsichtbar bleibt, ist der Sieg über sich selbst. Der Sprung über den eigenen Horizont hinaus. Sein Betreuer Rene Röwekamp sagt, er schöpfe seine Motivation daraus, dass Klienten wie Ulrich aus ihrem Schatten treten. „Viele dieser Menschen haben Qualitäten, die durch die Erkrankung verdeckt sind“, sagt er. „Am schönsten ist es, wenn in ihnen ein Stück Selbstbewusstsein erwacht.“

„Mir sin wie mer sin“ – Wir sind wie wir sind – singen die 150 Besucher, schunkelnd Arm in Arm eingehakt. Das Lied der Bläck Fööss entfaltet an diesem Nachmittag eine ganz eigene Doppeldeutigkeit. „Der Karneval ist unser Medium, um unsere Botschaften zu transportieren“, sagt Anita Schönenberg, Leiterin der Sozialpsychiatrie der Bonner Caritas.

Karneval als Therapie für die wunde Seele

„Für einige Klienten bedeutet es eine persönliche Aufwertung, im Vordergrund zu stehen“, so die 56-Jährige, die die Veranstaltung seit mehr als 20 Jahren mitorganisiert, moderiert und immer wieder auch selbst in Rollen schlüpft. Die gebürtige Bonnerin erzählt von Menschen, die sich in ihrem Alltag an Wänden entlangdrücken, um für ihr Umfeld unsichtbar zu sein. Deren Selbstbewusstsein es ihnen nicht erlaubt, aus dem eng gezogenen Kreis ihrer Gewohnheiten hervorzutreten. Menschen, die für die Dauer eines Auftritts in neue Rollen tauchen und dabei aufblühen. „Wir sehen Menschen, die diese Verwandlung erleben und diesen Aufschwung für einige Wochen für sich mitnehmen“, sagt Anita Schönenberg. „Das sind Momente, die unter die Haut gehen.“ Der Karneval wird zur Therapie für die wunde Seele.

„Man schaut in die hellen Schwaden, fasziniert vom wolkigen Schweben / Und man vergisst sich selbst dabei und fast das ganze Leben / Es ist schon erstaunlich, wie einfach man glücklich werden kann.“ Mit einer Mischung aus Schwermut und Leichtigkeit klingen die Zeilen von der Bühne. Hermann Rönz wirkt mit seinen 2,07 Metern Körpergröße neben den anderen Klienten der Tagesklinik wie ein gutmütiger Riese, der Funny van Dannens Lied von der Nebelmaschine singt. Dort heißt es weiter: „Muss einfach mal sein, so dann und wann. Keine Gedanken mehr, nur die Nebelmaschine an.“ Viele der Klienten leiden unter Psychosen und Depressionen. Das spiegelt auch das Bühnenprogramm wieder. Die Beiträge schwanken zwischen heiter und melancholisch. „Wir haben häufig stille Nummern mit Tiefgang“, sagt Anita Schönenberg. Die Klienten können ihre Krankheit dann in einem geschützten Rahmen verarbeiten.

Dazu zählt etwa ein Sketch eines Klienten aus dem Vorjahr zum Tourette-Syndrom – einer Nervenkrankheit, bei der die Betroffenen unter unkontrolliertem Muskelzucken leiden. „Die Klienten trauen sich deutlich mehr an Zweideutigkeit zu, als wir Betreuer es uns trauen würden“, sagt Schönenberg. „Die Sitzung wird dadurch sehr bunt und an manchen Stellen sehr ergreifend.“ Kon-troverse Themen würden im Vorfeld aber mit den Teilnehmern diskutiert, damit keine Missverständnisse entstehen.

„Was sind deine Wurzeln“, fragt ein Beitrag, der das Schicksal zweier Überlebender des 1945 untergegangenen Flüchtlingsschiffs „Wilhelm Gustloff“ neben das Schicksal eines syrischen Flüchtlings stellt. Eine andere Nummer fragt nach den Auswirkungen von Plastiktüten auf die Umwelt und tauscht den Homo Sapiens durch den Tütenmenschen aus: „Wir sind aus Plastik, geboren aus Abfall, bleiben ewig elastisch, denn nur Polyäthylen wird nie vergeh'n – ihr werdet seh'n. Wunderschöne Wesen aus Plastik, für immer schön.“

„Ich werde kämpfen, bis ich wieder aufstehe“, sagt Irina

Anita Schönenberg sagt, die Veranstaltung sei angelehnt an das Konzept der Stunksitzung – die berühmte alternative, kabarettistische Sitzung im Kölner Karneval. Alkohol ist allerdings tabu, weil viele Klienten Medikamente nehmen oder aber ohnehin ein Problem mit Alkohol haben.

Ab dem Sommer entwickeln die einzelnen Gruppen ihre Ideen und proben im kleinen Kreis. Erst zur Generalprobe am Tag vor der Premiere findet das Programm zusammen und wird bei zwei Veranstaltungen mit 300 Gästen aufgeführt. Die Magie des Karnevals ist für die 25-jährige Klientin Irina seit Kindheitstagen Dreh- und Angelpunkt, an dem sie sich aufrichten kann. Viele Jahre hat sie in einem Karnevalsverein mitgewirkt. Nie war sie Zuschauer, sondern stets aktiv dabei. Bis sie den Boden unter den Füßen verlor und schließlich Halt und Hilfe beim psychosozialen Dienst der Caritas fand. Ihre Betreuerin bescheinigt ihr eine positive Prognose.

Irina soll bald eine Ausbildung machen. „Ich werde kämpfen, bis ich wieder aufstehe“, sagt die junge Frau. Und der Karneval? Er soll zeigen, dass in jedem Menschen etwas Gutes steckt: „Die Menschen schauen das ganze Jahr über nur auf sich selbst. Aber zu Karneval sind die Leute wie ausgewechselt und zeigen ihre Gefühle.“ Dann rutscht Irina unruhig auf ihrem Stuhl hin und her und sagt mit ernstem Blick: „Ich will den Menschen im Publikum zeigen, dass man aus etwas Kaputtem etwas Gutes machen kann.“

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