Täter und Opfer zugleich Opern-Premiere "Peter Grimes" in Köln

Köln · Die Umjubelte Oper von Benjamin Brittens „Peter Grimes“ feierte Premiere in Köln. Regisseur Frederic Wake-Walker knüpft ein spannungsvolles Netz aus Emotionen.

 Ständige Bedrohung: Ivana Rusko (Ellen Orford) und Marco Jentzsch (Peter Grimes) in einer Szene von Frederic Wake-Walkers Inszenierung in Köln. FOTO: UHLIG

Ständige Bedrohung: Ivana Rusko (Ellen Orford) und Marco Jentzsch (Peter Grimes) in einer Szene von Frederic Wake-Walkers Inszenierung in Köln. FOTO: UHLIG

Foto: Uhlig

Der englische Dichter George Crabbe (1754-1832) hatte eine ziemlich klare Meinung über den Fischer Peter Grimes. Er beschreibt ihn als „untouched by pity, unstung by remorse, and uncorrected by shame“ – also: von Mitleid unberührt, von Reue unberührt und von Schamgefühlen nicht gebessert. Die Figur stammt aus Crabbes Gedichterzählung „The Borough“ (Die Gemeinde), bekannter geworden ist sie freilich durch Benjamin Britten, der Peter Grimes 1945 zum Titel(anti)helden seiner ersten großen und bis heute erfolgreichsten Oper machte. Aber der Fischer ist eben auch, obwohl unter seiner Obhut am Ende der Geschichte drei Lehrjungen zu Tode gekommen sein werden, Opfer der Dorfgemeinschaft, die sich zum Mob formiert, sodass ihm, dem verhassten Außenseiter, schließlich kein anderer Ausweg mehr bleibt als der eigene Tod in den Fluten.

In Köln hat der junge britische Regisseur Frederic Wake-Walker die zwiespältige Figur des Boarderliners Grimes, der Täter und Opfer zugleich ist, in einer Inszenierung auf die Bühne gebracht, die ein spannungsvolles Netz aus Emotionen knüpft, mal gallig komisch ist, mal aufwühlend, mal bewegend, mal gruselig wie ein Horrorfilm und am Ende zu Tränen rührt. Obwohl Wake-Walker in Aldeburgh aufwuchs, woher auch Crabbe stammt und wie Britten seine Wahlheimat fand, entgeht er der naheliegenden Versuchung, das Stück in diesem ostenglischen Fischerort anzusiedeln (in dem Fall hätte er sich einfach José Curas realistisches Bühnenbild aus dessen Bonner Inszenierung von 2017 ausleihen können).

Bei Wake-Walker blicken wir in das großzügig bemessene Innere einer amerikanischen Methodistenkirche (Ausstattung: Anna Jones). Wenn auf deren Bänken der Chor Platz nimmt und zur Musik von den hinteren Reihen ausgehend langsam aufsteht, wirkt solch ein Bild zum vollen Klang der Stimmen bedrohlich wie eine Sturmflut. Natürlich bleiben die Chorsänger nicht in den Bänken sitzen, deren Aufstellung sie immer wieder dem Geschehen anpassen. Die Choristen werden vielmehr zu zentralen Akteuren des Geschehens, musikalisch bestens vorbereitet durch den neuen Kölner Chordirektor Rustam Samedov und szenisch mit choreografischer Präzision geführt durch die Regie. Der Chor erzeugt beinahe permanent eine Atmosphäre der Bedrohung, sei es im Fackelzug oder in den leisen, unter weißen Totenmasken artikulierten „Peter Grimes“-Rufen am Ende der Oper.

Regie glänzt durch detailgenau gezeichnete Charaktere

Auch was die Zeichnung der anderen Charaktere angeht, ist Wake-Walker sehr detailgenau. Ob das nun Kneipenwirtin „Auntie“ (Malgorzata Walewska) und ihre in niedlichen rosa Kleidchen tanzenden „Nichten“ (Monica Dewey und Kathrin Zukowski) betrifft oder den Anwalt Swallow (Lucas Singer), der in Aunties Kneipe gern mal Urlaub von seinem öffentlichen Amt nimmt und sich in rotem Kleidchen tanzend mit den Damen des Hauses vergnügt, während oben auf der Galerie, wo im zweiten Akt noch die Kirchenorgel dröhnte, eine Tanzkapelle aufspielt. Hervorzuheben ist hier auch Rebecca de Pont Davies als Mrs. Sedley, die mit unglaublicher Präsenz die Bühne beherrscht, wo und wann immer sie auftritt.

Eine charmante ältere Dame mit viel Witz und einer angemessen schneidenden Stimme begabt. In den weiteren kleineren Rollen absolvieren auch Dino Lüthy (Bob Holes), Philip Sheffield (Pfarrer Adams), Wolfgang Stefan Schwaiger (Ned Keene) und Darren Jeffrey (Hobson) ihre Aufgaben ganz großartig. Marco Jentzsch macht die Zerrissenheit des Titelhelden in jeder Sekunde spürbar. In der Arie „Now the Great Bear and Pleiades...“ spiegelt er mit schönen Tenorfarben die tieferen Gefühlsschichten des Fischers, der aber schon im nächsten Augenblick wieder zum Getriebenen wird, der kurz nach dem Tod seines Lehrlings dessen Nachfolger mit harter Hand anfasst.

Ivana Rusko singt mit aufblühender Sopranstimme die Ellen Orford, die treu zu Grimes hält, nach dem Tod des neuen Lehrjungen ihn jedoch gemeinsam mit dem ebenfalls lange loyalen Balstrode, den Robert Bork mit eindrucksvollem Bass singt, zum Wasser geleitet: Der geöffnete Bühnenboden, aus dem blaues Licht schimmert, wirkt hier wie ein Grab. Als sie es schließen, legen die Dorfbewohner ihre Totenmasken ab und türmen sie zum Grabschmuck auf.

Das rechts neben dem Bühnengeschehen platzierte Gürzenich-Orchester sorgt unter der Leitung seines jungen Ersten Gastdirigenten Nicholas Collon für die atmosphärischen Farben, die in dem Werk so wichtig sind. Großartig etwa die berühmten Sea Interludes, aber auch die anderen Seiten der stilistisch unglaublich vielschichtigen Partitur, die Berg, Strauss, Schostakowitsch, Verdi und Weil anklingen lässt und doch immer ganz und gar Britten bleibt. Großer Premierenjubel.

Drei Stunden 20 Minuten inkl. 2 Pausen. Weitere Aufführungen: 28., 30. 11.; 2., 6. und 8.12.

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