Mondfinsternis am 27. Juli Mythen, Märchen, Mond

Bonn · Ohne ihn kommt unsere Kultur nicht aus: Der silbrige Begleiter der Erde prägt bis heute Gefühle, Gedichte und Geschichten.

Auch was wir jeden Tag sehen, kann unseren Verstand sprengen. An wie vielen Abenden scheint der Mond wie zum Greifen nah – obwohl es fast neun Jahre Dauer-Fußmarsch bräuchte, um hinzukommen. 12 742 Kilometer beträgt der Durchmesser der Erde (im Mittelwert, denn sie ist keine Kugel). 3476 Kilometer beträgt der des Mondes. Und der durchschnittliche Abstand zwischen beiden beträgt rund 383 400 Kilometer.

Zahlen, ebenso präzise wie irrelevant für unser Gefühl. 383 000, oder 12 000, oder 3400 – das wird erst greifbar, wenn wir es auf Alltagsgrößen herunterrechnen. Ein Badetuch (1,20 Meter lang): am einen Ende ein Pingpongball (=Erde), am anderen eine Murmel (=Mond). Oder ein 7,15 Meter langes Wohnmobil: ein Basketball auf der einen Stoßstange, ein Tennisball auf der anderen. Das zeigt: Verglichen mit der Erde ist der Mond ziemlich klein. Und ziemlich weit weg.

Dennoch: Die Bedeutung seines Trabanten für unseren Planeten – für seine Stabilität und für das Leben auf ihm – lässt sich kaum überschätzen (siehe auch Seite Forschung und Umwelt). Vielleicht haben die Menschen dies, jenseits aller Naturwissenschaft, schon in früheren Zeiten geahnt. Zum Beispiel schon, weil das bleiche Gestirn am Himmel in der chaotischen Welt so etwas wie sichtbare Ordnung schafft.

Jahreszeiten, Ebbe und Flut, Geburt und Tod – all das ist je nach Ort und Person unübersichtlich und verschieden. Nur zwei Dinge sind weltweit immer gleich, in ihrem regelmäßigen Wechsel sicht- und erlebbar, definiert „von oben“ ohne jedes menschliche Zutun. Die Sonne, deren Kommen und Gehen den Tag ausformt – und der Mond, der sich von der Scheibe zur Sichel wandelt und wieder zurück.

„Die beiden großen Leuchten, die größere zur Herrschaft über den Tag, die kleinere zur Herrschaft über die Nacht [...] sollen als Zeichen dienen für Festzeiten und Tage und Jahre.“ So steht es am Anfang der Bibel, und noch heute folgen der jüdische und der islamische Kalender dem Lauf des Mondes – und Ostern, das höchste Fest der Christen.

Die Sonne verehren wir – den Mond lieben wir

Nicht an beide großen Lichter traut sich der Mensch näher heranzutreten. Die Sonne wehrt sich dagegen. Wer sie zu lange anschaut, wird blind; wer sich ihr zu lange aussetzt, erleidet Verbrennungen zweiten Grades. Kein Wunder, dass wir uns lieber ihrem kleinen Bruder widmen, dem silbernen, kühlen, stillen.

Die Sonne verehren wir; den Mond lieben wir. Heulen ihn weintrunken an, starren melancholisch empor, denken uns seit Jahrtausenden Geschichten über ihn aus. Die Flecken in seinem Antlitz etwa: So viele Völker, so viele Geschichten, die sie erklären. Er hat sich geprügelt (Kenia). Ist in ein Schlammloch gefallen (Assam). Wurde von einem Jaguar gekratzt (Argentinien). Hat ein Kind getröstet, dessen Tränen auf ihn tropften (Algerien).

Manchmal formen die Flecken auch ein Bild oder eine Figur. Einen Frosch, finden Inder und Japaner. Einen Hasen, sagen Chinesen und Nigerianer. Den „Mann im Mond“, heißt es in Europa. Ein litauisches Märchen erzählt, der Mond sei Zeuge gewesen, als Gott die ersten Menschen formte: Darum zeigt der Mond die Umrisse einer menschlichen Gestalt. Warum so undeutlich? Weil er versuchte, den Menschen nachzuahmen, und die genaue Form vergessen hatte. Ihm gelang nur ein Wesen ohne Beine: die Schlange. Zur Strafe verbannte Gott ihn von seiner Seite und erschuf die Sonne als neue Himmelsleuchte.

Statt des Manns im Mond: Männernamen für Mondkrater

Uns Heutigen zeigt der Mond keine Figur mehr, kein Gesicht, nur noch Klüfte und Krater. Dennoch pflegt der Mensch weiterhin das mythische Tun und hat die schroffen Formationen nach neuen Helden (leider fast nur Männern) benannt – nach denen der Wissenschaft. Krater von Ernst Abbe (das war ein deutscher Physiker) bis Fritz Zwicky (das war ein Schweizer Astronom). Gebirge von Georgius Agricola (ein sächsischer Arzt) bis Christian Wolff (ein Universalgelehrter aus Schlesien).

Wie die antiken Rhapsoden bauen wir den Mond in unsere Gesänge ein. Von Rose Ausländer („Der Mond errötet / Kühle durchweht die Nacht / Am Himmel Zauberstrahlen aus Kristall“) bis Carl Zuckmayer („Mond und Sterne des Südens / rieseln ins Wasser wie Schnee“): Mondverse von wirklich jedem, der je einen Stift in der Hand hatte – bis hin zu reimenden Gestalten wie Hitlers Duzfreund Dietrich Eckart („Hoch steht der Mond. Mit seiner lieben Glut / umkost er die verschwenderischen Blüten“).

Dass keine Moderne den Menschen hindern kann, das antike Spintisieren weiterzutreiben, beweisen auch diverse Verschwörungstheorien, nach denen „die Amis nie auf dem Mond gewesen“ sind. Auch solche Sachen sind eine Art Mythos: Große Erzählungen, die Ordnung in die Welt bringen sollen – und sei es die, dass es keine Ordnung gibt, weil DIE DA OBEN „uns“ ständig anlügen.

Mythen sind auch die zeitgenössischen Geschichten, was der Mond angeblich mit unserer Gesundheit anstellt. Dass der Vollmond manche Menschen zu Werwölfen mache. Dass er uns den Schlaf raubt und Autounfälle provoziert. Dass einer, der schlafwandelt, „mondsüchtig“ sei.

Die Mondphasen passen zum weiblichen Zyklus? Quatsch!

Und wie viele Esoteriker haben einen „Zusammenhang zwischen dem Rhythmus des Mondes und der weiblichen Regel“ konstruiert! Dabei richtet der Menstruationszyklus sich nicht nach Zahlen. Er kann 20 Tage dauern oder 35; das ist von Frau zu Frau und von Umstand zu Umstand verschieden. Außer, man hilft ihm mit pharmazeutischen Mitteln nach und zwängt ihn auf den 28-Tage-Standard der Kontrazeptiva – passend zum Terminkalender, aber nicht zum Kreislauf der Mondphasen. Der dauert nämlich nicht 28 Tage, sondern neunundzwanzigeinhalb.

Wenn schon, dann besser gleich in die Vollen gehen, wie es Rudolf Steiner getan hat, Großmeister altdeutscher Selfmade-Mystik. Erde und Mond waren ursprünglich ein und derselbe Himmelskörper, sagt er. „Der Mond war einmal in der Erde drinnen! Was da als Mond herumkreist, war in der Erde drinnen und hat sich von ihr abgetrennt, ist hinausgegangen in den Weltenraum. Die Erde hat da gewisse Substanzen verloren, und jetzt erst konnte sich das Mineralische in der Erde bilden. Erst der Mondenaustritt hat der Erde den Tod gebracht und damit das Mineralreich, das tot ist. Aber damit sind auch erst die Pflanzen, die Tiere und der Mensch in seiner heutigen Gestalt möglich geworden.“

Folge war laut Steiner unter anderem, dass der Mensch aufrecht zu gehen begann, das Sprechen ausbildete – und die zwei Geschlechter. Obwohl der Denkbildner von Dornach das wahrscheinlich nicht meinte, lässt es sich auch auf die große Zweiteilung im Reden beziehen – die grammatische Trennung zwischen „der“ Sonne und „dem“ Mond (oder umgekehrt).

In vielen Sprachen, in denen es so etwas wie ein grammatisches Genus gibt, wird die Leuchte der Nacht in die gegenteilige Schublade einsortiert wie die des Tages. Französisch: le soleil, la lune. Arabisch: Sonne „asch-schams“ (weiblich), Mond „al-qamaru“ (männlich). Griechisch: Sonne „hêlios“ (männlich), Mond „selêne“ (weiblich). Überraschend diplomatisch gebärdet sich das Russische: Da ist der Mond zwar weiblich („luná“), die Sonne hingegen ein Neutrum („sólntse“).

Vom Sprechen zum Schreiben: Moderne Mythen sind auch alle Science-Fiction-Geschichten seit ihrer Urahnin, Jules Vernes „Von der Erde zum Mond“, erschienen 1865. Der unerschrockene Abenteurer Michel Ardan lässt sich darin in einer bewohnbaren Mega-Granate auf den Mond schießen. „Angenommen, dass Sie wohlbehalten ankämen“, fragt ein Kritiker den Helden: „Wie würden Sie wieder zurückkommen?“ Ardan, ganz Forscher, antwortet kühl: „Ich werde nicht zurückkommen.“

Schaurige Pläne: Was wäre beim Scheitern des Mondflugs geschehen?

Ein Mythos, der zu der schaurigen Geschichte passt, was denn wohl passiert wäre, wenn die erste bemannte Mondfahrt 1969 (siehe Titelseite) spektakulär gescheitert wäre. Die Gefahr war viel größer, als die Fernsehzuschauer wussten: Ein paar Liter weniger Treibstoff, eine nicht ganz aufrechte Landung – und die „Eagle“ wäre unrettbar auf dem kosmischen Felsen gestrandet. Ein Plan dafür lag fertig ausgearbeitet vor. US-Präsident Richard Nixon hätte den „widows-to-be“ sein Beileid ausgesprochen, den „werdenden Witwen“. Ein Geistlicher hätte das Ritual „Beisetzung auf hoher See“ zelebriert und „die Seelen der Männer der tiefsten der Tiefen anvertraut“.

Dann wäre der Funkverkehr gekappt worden: Ohne Zuspruch hätten Neil Armstrong und Edwin Aldrin dem Tode entgegensehen müssen, dem langsamen Ersticken in einer sonnendurchglühten Wüste unter einem schwarzen Himmel, an dem unerreichbar blauleuchtend die Heimat scheint, so weit entfernt, wie 72 Atlantiks breit sind. Wenn das keine Geschichte wie aus dem Mythos ist, ein Heldenepos wie das Scheitern des Polarforschers Scott in der Eiswüste – was dann? Gottseidank blieb es ein Mythos für die Schublade.

Nixons geplante Trauerrede spricht von den Astronauten im Präsens, macht sie also zu Toten, die noch leben. „Das Schicksal hat bestimmt, dass die Männer, die zum Mond flogen, um dort in Frieden zu forschen, auf dem Mond bleiben werden, um dort in Frieden zu ruhen. Diese tapferen Männer wissen, dass keine Hoffnung auf Rettung besteht. [Sie] geben ihr Leben für das nobelste Ziel der Menschheit: die Suche nach Wahrheit und Verstehen. [...] Mit ihrem Opfer schweißen sie den Bund der Menschen noch enger zusammen. [...] In alten Zeiten schauten die Menschen nach den Sternen und sahen Helden in den Konstellationen. In modernen Zeit tun wir es ähnlich, doch unsere Helden sind epische Männer aus Fleisch und Blut. [...] Jeder Mensch, der in künftigen Nächten zum Mond aufschaut, wird wissen, dass es einen Winkel einer anderen Welt gibt, der für immer zur Menschheit gehört.“

Der nachdenkliche Blick nach oben. Der Begleiter der Menschheit am Himmel. Der Bezug auf den Mythos. Die wie in Stein gemeißelten Worte. Ohne all das scheint es nicht zu gehen, wenn der Mond mit von der Partie ist. Nicht einmal beim größten Abenteuer, das die so gänzlich unromantische Technik auf die Beine stellen konnte.

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