Frohburg von Guntram Vesper Mit viel Punkt und Komma

Frohburg · Guntram Vesper erzählt von seiner Geburtsstadt. Und seinem Leben. Und dem Leben vieler anderer Leute. Und deutscher Geschichte. Und Weltgeschichte. Und überhaupt.

 Eine Stadt schwimmt irgendwo im Meer der Erzählung: „In Frohburg war das, auf halber Fernstraßenstrecke zwischen Leipzig und Chemnitz, dort, wo die Tieflandsbucht, die Kohlenebene aufhört und das sächsische Hügelland anfängt ...“.

Eine Stadt schwimmt irgendwo im Meer der Erzählung: „In Frohburg war das, auf halber Fernstraßenstrecke zwischen Leipzig und Chemnitz, dort, wo die Tieflandsbucht, die Kohlenebene aufhört und das sächsische Hügelland anfängt ...“.

Foto: picture alliance / dpa

Wenn es einmal geschähe, daß ein Menschenleben von seinem Beginn bis zum Ende aufgeschrieben würde, samt allen Verwurzelungen und Verflechtungen, so würde das ein Epos ergeben, so reich wie die ganze Weltgeschichte.“ Es war Hermann Hesse, der davon träumte. Es ist Guntram Vesper, der es geschafft hat. Nicht „bis zum Ende“ – schließlich weilt der Autor, 1941 in Frohburg bei Leipzig geboren, durchaus noch unter den Lebenden.

Wie er aber unter eben diesem Titel „Frohburg“ von seiner Heimat und seinem Leben erzählt (und fast allem, was mit den beiden auch nur im Entferntesten zusammenhängt) – das ist ein Opus maximum, fast wirklich so reich wie die ganze Geschichte. Vespers, Frohburgs, Deutschlands, und überhaupt.

„Geschichte“ kommt von „geschehen“, nicht von „lenken“. Genau so funktioniert dieses Buch: Roter Faden ist, dass es keinen hat. Höchstens läuft er wie in einem Webstuhl zwischen den Orten, Zeiten und Menschen hin und her, zwischen 18. und 21. Jahrhundert, zwischen Sachsen und Hessen, zwischen diversen Staatsformen, Herrschern, Parteien, Generationen. Vesper hat sich nicht nur zum Historiker des eigenen Lebens gemacht (das tun viele); er hat den Antiquitätenhändler gleich noch draufgepackt.

Wirklich alles muss er gesammelt haben, aus der Erinnerung rekon-struiert oder nachträglich wiederbeschafft. Stammbäume und Messtischblätter. Speisekarten. Rezepte. Postkarten. Familienfotos. Lesebücher, Karl-May-Scharteken. Porzellan. Möbel. Gespräche mit den Eltern protokollierte er; frühere Wohnungen und Ferienunterkünfte der Familie fand er wieder – und klärt, wo's gerade so schön war, gleich deren Eigentumsverhältnisse.

Ganz selten nur kommen Leute vor, die der Leser schon von anderswo kennt; ihre Geschichten werden bisweilen in subtiler Kürze angerissen („Stop in Bautzen, wo ich zwei Ansichtskarten an Loest und Kempowski schrieb, die beide lange in Bautzen gelebt, die Stadt aber nie gesehen hatten“). Viel wichtiger aber sind die Figuren, deren Geschichte uns nicht bereits im Kopf steht, sich erst in ihren eigenen Worten entfaltet, wenn irgendwer aus dem Nichts auftaucht und eine große Geschichte über jemanden erzählt, der vor 100 Jahren eine Geschichte darüber erzählte, wie vor 200 Jahren im Erzgebirge ... und so weiter.

Eine Methode, auf die sich der Leser einlassen muss; es lohnt sich. Die Satzzeichen der Wahl sind Punkt und Komma. Frage-, Ausrufe-, Anführungszeichen? Nix. Ein Urstrom, den durchschwimmen zu wollen zwecklos ist; er reißt einen mit, es be-geist-ert, berauscht. Versuchen Sie gar nicht erst, im Kopf eine Ordnung hineinzubringen in all die Väter und Söhne und Onkel und Tanten und Kusinen und Bettelmädchen und Tiere und Autos und Dichter und Agenten und Prostituierten und Sektenführer und Ärzte und Antiquare und Lehrer und Schüler und Lebende und Tote.

Lassen Sie sich treiben im Mären-Meer. Denken Sie sich, sie säßen da und hören zu, also, wie da einer erzählt, seine Geschichte und die seiner Vorfahren und Freunde, und manchmal schweift er ab, gib mir mal das Bier rüber, a propos Bier, was macht eigentlich der Erbe von der Brauerei, und manchmal fragt einer dazwischen, also wie war das jetzt nochmal, was meinst du jetzt, na mit der Pest-Epidemie am Uranbergwerk, wo plötzlich der Typ mit dem Kruzifix auftauchte und rumbrüllte, ach ja, das war so.

Wie jeder Urstrom verliert das Ganze kurz vor der Mündung ein wenig an Schwung. Manchmal will der Leser in den Stoßseufzer von Seite 811 einfallen: „Halt doch mal, stop, man kommt nicht nach bei dir, ich will jetzt endlich wissen, wie es weiterging.“ Doch „Frohburg“ hat seinen eigenen Anspruch des Über-Buches, in dem alles drinsteht. Wenn es Lust hat, antwortet es selbst. „Was kann ich dafür, wenn mir immer neue Seitentriebe und Schleifen einfallen, wenn die mich förmlich überrumpeln, auf neue Fährten locken, bis ich in Gefahr bin, den Faden zu verlieren, da ist alles aneinandergebunden, ineinandergestrickt, in eins verwoben, wo anfangen, wo aufhören, ohne die Sache zurechtzubiegen, abzukappen, zu beschädigen oder zur Schwindelei zu machen.“

Oder auch so: „Wer will es mir verdenken, wenn ich mir die ganze Geschichte nach meinem Gusto zurechtlege, die wird nicht weniger wahr als jede andere, ganz wahr ist keine.“ Oder auch so: „Die Geschichten, die ich als Kind vorgebetet, eingeredet, eingetrichtert bekam, auf die ich mich stürzte, an die ich mich hielt, waren meist falsch. Erst die Fortsetzungen, die ich mir selber ausdachte, bald danach oder später, sogar sehr viel später und kürzlich erst, klangen einigermaßen wahr, wenn ich sie mir erzählte, immer wieder ...“ (wie bei Vesper üblich, hat der Satz noch zwölf weitere Zeilen).

„In Frohburg war das, auf halber Fernstraßenstrecke zwischen Leipzig und Chemnitz, dort, wo die Tieflandsbucht, die Kohlenebene aufhört und das sächsische Hügelland anfängt ...“. In Frohburg war das. Mehr ist eigentlich nicht zu sagen.

Guntram Vesper: Frohburg. Schöffling, 1002 S., 34 Euro

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