Deutschland und die Türkei Meinungsfreiheit auf dem Prüfstand

Bonn · Der 28-jährige Journalist Sebastian Kempkens bezieht bei der Rede des türkischen Außenministers in Hamburg Stellung für Deniz Yücel und wird für einen Moment zum Spielball politischer Interessen.

 Jubel an der Außenalster: Am Abend des 7. März feiern Anhänger des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in Hamburg dessen Außenminister Mevlüt Cavusoglu, der auf dem Balkon der Residenz des Generalkonsuls eine Rede hält. Erdogan will per Referendum das parlamentarische System der Türkei in ein autoritäres Präsidialregime umwandeln.

Jubel an der Außenalster: Am Abend des 7. März feiern Anhänger des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in Hamburg dessen Außenminister Mevlüt Cavusoglu, der auf dem Balkon der Residenz des Generalkonsuls eine Rede hält. Erdogan will per Referendum das parlamentarische System der Türkei in ein autoritäres Präsidialregime umwandeln.

Foto: picture alliance / Axel Heimken/

„Das hab’ ich in meinen fünf Jahren bei der BBC gelernt: Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten.“

Hanns Joachim Friedrichs

„Freiheit nur für die Anhänger der Regierung ... ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit des anders Denkenden.“

Rosa Luxemburg

Ein eher stiller junger Mann. Einer, der nachdenkt, bevor er redet, der sorgfältig beobachtet, bevor er schreibt. Die Provokation ist nicht so sein Ding, und viel Aufhebens um seine Person ist ihm zuwider. Letzteres unterscheidet den 28-jährigen, in Bonn am Rhein aufgewachsenen Journalisten Sebastian Kempkens von seinem vor 43 Jahren in Flörsheim am Main geborenen Kollegen Deniz Yücel, derzeit Insasse eines türkischen Gefängnisses.

Yücel besitzt neben dem türkischen auch einen deutschen Pass, und er arbeitete als Korrespondent der deutschen Tageszeitung Die Welt in der Türkei, als er verhaftet und ins Hochsicherheitsgefängnis von Silivri gebracht wurde, das größte Gefängnis des Landes. Bis Prozessbeginn kann man dort nach türkischem Recht bis zu fünf Jahre in U-Haft schmoren. Die deutsche Staatsangehörigkeit verschafft Deniz Yücel deutlich mehr Anteilnahme der Weltöffentlichkeit, als den derzeit rund 50 inhaftierten türkischen Kollegen zuteil wird.

Als Yücel noch in Deutschland arbeitete, für den Tagesspiegel, für die Jüdische Allgemeine, für Süddeutsche, taz, WDR, NDR, BR und andere, da war er bekannt dafür, mit seinen Kommentaren und Essays zu provozieren, in seinen Texten lustvoll und böse und mitunter auch ziemlich geschmacklos zuzuschlagen, gegen den Bundespräsidenten, gegen den Papst, gegen Thilo Sarrazin, wer auch immer es seiner Meinung nach gerade verdient hatte.

Sebastian Kempkens absolvierte nach Abitur am katholischen Kardinal-Frings-Gymnasium in Beuel und Zivildienst erfolgreich die Deutsche Journalistenschule in München, schrieb anschließend für die taz (wo er Deniz Yücel kennenlernte, der dort sieben Jahre arbeitete) und Spiegel Online, bevor er einen Vertrag als Redakteur und Hamburg-Reporter bei der Wochenzeitung Die Zeit unterschrieb. Seine klassischen Reportagen werden hochgelobt.

Am Abend des 7. März, als der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu auf dem Balkon der Residenz des Generalkonsuls an der Außenalster eine flammende Rede hält, um das in Hamburg lebende türkische Wahlvolk für Präsident Recep Tayyip Erdogans Plan zu begeistern, mit Hilfe eines Referendums das parlamentarische System der Türkei in ein autoritäres Präsidialregime umzubauen, da wird aus Sebastian Kempkens, dem stillen Beobachter, binnen Sekunden ein Objekt der Betrachtung, ein Spielball politischer Interessen.

"Ein Journalist ist immer im Dienst"

An diesem Abend um kurz nach acht ist der 28-Jährige nicht etwa im Auftrag seiner Redaktion unterwegs. Vielmehr treibt ihn die private Neugierde zu dem Spektakel an der Außenalster. Natürlich auch die journalistische Neugierde. Wie soll man das trennen? „Ein Journalist ist immer im Dienst“, pflegten Nachkriegs-Chefredakteure dem journalistischen Nachwuchs zu predigen.

Da steht er also mitten in der Menge, beobachtet, macht sich ein paar Notizen, eine deutsch-türkische Praktikantin aus der Redaktion hat ihn zur Kundgebung begleitet und übersetzt ihm simultan, was der türkische Außenminister sagt, wie er herzieht über Deutschland als undemokratisches Land, das die Meinungsfreiheit nicht achte, schließlich sich und Erdogan als wahre Hüter der Demokratie beschreibt.

Das anwesende Wahlvolk auf dem durchnässten, matschigen Rasen muss gar nicht mehr überzeugt werden. Erdogan brauche die Macht, um das Land wieder stark zu machen, versichert ein Teilnehmer dem jungen Journalisten. „Wir müssen uns ziemlich ins Ohr schreien, weil es so laut ist“, erinnert sich Kempkens. Türkische Popsongs plärren aus den Lautsprechern: „Türkei, wir würden für dich sterben“, heißt es in einem der Songs, die begeistert mitgesungen werden.

Vorwiegend Männer haben sich vor dem Balkon versammelt, die vereinzelten Frauen tragen allesamt Kopftuch. Die Menschen, die mehrheitlich im demokratischen Deutschland aufgewachsen sind, jubeln und heben immer wieder die Hand zum „Wolfsgruß“, auf dem Balkon erwidert der Außenminister das ultranationalistische Handzeichen. Aufgeheizte Gemüter in der feuchten Kälte des Märzabends. „Allahu akbar“, brüllt die Menge. Vorgefertigte Pappschilder werden verteilt, die aufgedruckten Botschaften loben das geplante Referendum.

Auch Sebastian Kempkens wird ein solches Pappschild in die Hand gedrückt. Und dann passiert es: Ohne lange darüber nachzudenken, dreht der 28-jährige die Pappe um, nimmt seinen Stift, malt auf die unbedruckte Rückseite FREE DENIZ (das Stichwort für den im Internet versammelten Protest gegen die Inhaftierung des deutsch-türkischen Journalisten) und reckt das Pappschild hoch wie alle anderen auch.

Polizisten schritten trotz Gewalt nicht ein

Der stille Protest ist von kurzer Dauer. Nur wenige Sekunden vergehen, bis eine junge Frau mit dem Finger auf ihn zeigt und hysterisch schreit: „Ein Provokateur, ein Provokateur!“ Augenblicklich drischt die Meute auf ihn ein, die Pappe wird ihm aus der Hand gerissen. Ein Mann packt ihn und stößt ihn in die Menschenmenge, ein anderer stößt ihn zurück, ein dritter schlägt ihm die Brille von der Nase, sie verschwindet im Morast.

Was dann passiert, kann der nun hilflose junge Mann nur noch hören und spüren, aber nicht mehr sehen: „Ich habe minus fünf Dioptrien. Ohne Brille bin ich aufgeschmissen.“ Fünf, sechs Männer umringen ihn, drängen ihn gegen eine Mauer. „Du verdankst es nur Erdogans Menschlichkeit, dass du noch lebst“, zischt einer.

Die Situation wird immer bedrohlicher. Kempkens stößt sich von der Mauer ab und rennt davon. Immerhin verfolgen sie ihn nicht über die Straße. Der junge Mann erstattet beim Polizeikommissariat 11 Strafanzeige gegen Unbekannt und schreibt reumütig auf Zeit Online, er habe einen Fehler gemacht, weil er die journalistische Distanz nicht wahrte, sondern selbst zum Akteur wurde.

Giovanni di Lorenzo, sein Chefredakteur, machte keine große Sache daraus, besuchte den jungen Kollegen im Büro, um sich nach seinem Gesundheitszustand zu erkundigen, und gab ihm noch ein paar väterliche Ratschläge für die Zukunft mit auf den Weg.

Neben türkischen Security-Leuten in schwarzen Anzügen und Lederjacken waren an jenem Abend auch 850 deutsche Polizeibeamte rund um die Residenz im Einsatz. Zwar hätte die Polizei nach dem Wiener Übereinkommen das Grundstück im Fall einer Gefahrenlage betreten dürfen, aber abwägen müssen, ob die angespannte Situation dann eskaliert wäre. Die Welt zitierte einen Beamten, der am Abend des 7. März dabei war: „Wenn auf einen am Boden Liegenden eingetreten worden wäre, dann wären wir natürlich auf das Gelände und dazwischen gegangen.“

Staatsrat Wolfgang Schmidt schrieb einen Brief an den Generalkonsul: „Die Vorwürfe sind aus Sicht des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg sehr gravierend.“ Einschüchterungen und körperliche Angriffe seien nicht zu tolerieren, man bitte um Unterstützung bei der Aufklärung.

Sebastian Kempkens hat nun eine neue Brille. Und ist um eine Lebenserfahrung reicher.

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