Szenischer Liederabend Mehr Kunst geht nicht

Köln · Der Niederländer Johan Simons, Intendant der Ruhrtriennale und künftiger Chef des Bochumer Schauspiels, inszeniert Schuberts „Winterreise“ in der Kölner Philharmonie. Der Sänger Georg Nigl überzeugt als Wanderer.

 Todessehnsucht: Georg Nigl singt (und spielt) in der Kölner Philharmonie Schuberts Wanderer. FOTO: JÖRN NEUMANN

Todessehnsucht: Georg Nigl singt (und spielt) in der Kölner Philharmonie Schuberts Wanderer. FOTO: JÖRN NEUMANN

Foto: Jörn Neumann

Bachs Matthäuspassion, Mozarts Don Giovanni, Beethovens Neunte, Wagners Ring – man muss schon zu den Sternen greifen, sucht man einen Vergleich zu Schuberts Winterreise: mehr Kunst geht nicht. Dabei muss die Kunst am Ende der winterlichen Reise die Waffen strecken. Wenn der Wanderer, verlassen von der Liebe, vertrieben von den Menschen, verfolgt von kläffende Hunden, sich wiederfindet an einem zugefrorenen See und seine letzte Worte singt, begleitet vom armseligen Geschnarre einer Leierorgel, dann verliert sich auch die Hoffnung, dass wenigstens die Kunst den Menschen retten könnte. Nein, fand Schubert, das kann sie nicht.

Komisch, dass auf der langen Tafel dennoch so viele Kerzen brennen. Die Metaphern, die Regisseur Johan Simons für seine Inszenierung der Winterreise wählt, sind schön, atmosphärisch stimmig, aber sie sind nicht alle zwingend. Den Tisch auf der Bühne der Kölner Philharmonie hatte Simons zu Beginn gedeckt mit Dutzenden Schuhen – ein Sinnbild für das Wandern, sicher, aber doch das falsche. Denn die Gesellschaft bleibt bei Schubert ja wo sie ist, nur der Wanderer zieht davon, allein.

Anders die kahlen Bäume, die Bariton Georg Nigl und die Musiker des Ensemble intercontemporain nach und nach in die Tischplatte pflanzen: auf den Schutz der Natur sollte sich der Mensch besser nicht verlassen. Oder die ramponierten Koffer rechter Hand: Der Dichter Wilhelm Müller nennt seinen Wanderer einen „armen Flüchtling“. Hier sieht man‘s. Oder die Holzhäuschen, aus denen Nigl im zweiten Teil ein kleines Dorf bastelt, als Sehnsuchtsbild einer verlorenen Gemeinschaft. Das immerhin passt, wenngleich es nicht zündet. Auch Mark Andre tut sich schwer mit dem Wunderwerk „Winterreise“. Zweifellos einer der wichtigsten Komponisten der Gegenwart, hat Andre einige der Lieder mit musikalischen Gelenken verbunden: zum Teil in den Raum hinausgreifende Zwischenspiele, in deren verrauschter Textur die Not des Wanderers und die Unerbittlichkeit der Welt gleichermaßen widerhallen. Die Kälte knackt, man hört Schritte wie auf Schnee und schneidenden Wind. Das wirkt mal eindringlich, mal nebensächlich.

Keine Nebensache: Georg Nigl. Man kann sich stören am Pathos, den Schluchzern, dem flatternden Druckluftvibrato des Österreichers: Nigl erschüttert und berührt, schreit seine Verzweiflung mit mächtigem Ton heraus, freut sich wie ein Kind über die Trugbilder vom Glück, und verzweifelt schließlich ganz still auf dem Eis.

Die ganz große Kunst allerdings, die spielt am linken Rand der Bühne. Andreas Staier reißt Abgründe auf, die schwindlig machten. Es gibt zurzeit wohl keinen größeren Schubert-Interpreten. Um seine Hörer zu erschüttern, braucht Staier, der Star der Alten Musik, keinen Hammerflügel, das kann er auch auf einem Steinway. Wie er spielt, das hat mit Begleitung nichts zu tun, steht als Kommentar für sich. Das Schicksal des Wanderers ist nur das Schicksal eines Einzelnen. In der Welt aber, das lernt man hier, kann sich jeder verlieren.

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