Autobiografie von Marina Abramovic Kunst muss wehtun

Bonn · Sie hat sich und ihr Publikum nie geschont: Marina Abramovic, die dienstälteste Performance-Künstlerin der Welt, wird 70 und hat unter dem Titel „Durch Mauern gehen“ ihre Autobiografie geschrieben.

 Marina Abramovic erläutert ihre Performance in der Serpentine Gallery London

Marina Abramovic erläutert ihre Performance in der Serpentine Gallery London

Foto: picture alliance / dpa

In der Kunst gehe es um Leben und Tod. Dieser Maxime von Bruce Nauman möchte Marina Abramovic kaum etwas hinzufügen: „Das klingt melodramatisch, stimmt aber. Genauso war es für mich, schon ganz am Anfang. In der Kunst ging es tatsächlich um Leben und Tod. Etwas anderes gab es nicht. Es war eine sehr ernste Sache und notwendig“, schreibt sie in ihrer gerade erschienenen Autobiografie „Durch Mauern gehen“. Leben und Tod, Schmerzen und Blut, Kunst als Grenzerfahrung: Seit den 70er Jahren praktiziert die dienstälteste Performance-Künstlerin der Welt diese für die Akteurin wie für das Publikum aufreibende Kunstform. Am kommenden Mittwoch wird sie 70 – und es ist noch kein Ende ihrer Aktionen abzusehen (die seit etwa einem Jahrzehnt moderater ablaufen).

1997 künden ein fauliger Geruch und hitzige Balkanrhythmen schon von weitem ein besonderes Ereignis an. Vor dem italienischen Pavillon der Kunstbiennale in Venedig drängen sich die Besucher, in einem abgedunkelten Raum ist die Luft zum Schneiden, der Verwesungsgeruch raubt einem die Sinne: Auf einem riesigen Knochenberg sitzt eine dunkelhaarige Frau – Marina Abramovic – in einem weißen, blutbeschmierten Kleid und schrubbt die Knochen blank – viereinhalb Tage lang. Man sieht Projektionen einer alten Frau und eines Mannes, der eine Pistole zieht, man sieht Abramovic als Wissenschaftlerin im Laborkittel, die die schaurige Geschichte von der mörderischen Wolfsratte erzählt, sich dann bis auf ein schwarzes sexy Negligé auszieht und einen feurigen serbischen Tanz tanzt. „Das war die Essenz von “Balkan Baroque„: ein entsetzliches Gemetzel und eine zutiefst verstörende Geschichte, gefolgt von einem sexy Tanz – dann wieder die Rückkehr zu noch blutigerer Scheußlichkeit“, schreibt Abramovic.

Die verstörende und für alle, die da waren, unvergessliche Performance „Balkan Baroque“ gewann den Goldenen Löwen der Biennale und ist ein erster Höhepunkt in der Karriere der Künstlerin. Sie hat gelitten, ihr Publikum mit ihr – diese Einheit strebt sie an. „Balkan Baroque“ war aber auch eine sehr autobiografisch geprägte Arbeit. Es geht um den blutigen Zerfall ihrer Heimat, um den „Balkan-Wahnsinn“ (Abramovic); die beiden Alten in der Projektion sind ihre Eltern, die es als Partisanen unter dem jugoslawischen Diktator Tito zu Ehren brachten.

Marina Abramovic wird 1946 in Belgrad geboren, eine graue, marode Stadt, wie sie schreibt. Materiell herrscht für die Familie kein Mangel, die ehemaligen Partisanen gelten als Kriegshelden und leben in einer großen Wohnung, sind privilegiert. Doch emotional ist es die Hölle. Insbesondere die Mutter Danica, hohe Funktionärin und Leiterin des Revolutionsmuseums, ist hart, kalt und dominant. Fast bis zu ihrem 30. Geburtstag steht Marina unter ihrer Fuchtel. „Meine Jugendjahre waren eine verstörte, unglückliche Zeit“, schreibt sie. Bezeichnend, wie Vater Vojo ihr das Schwimmen beibrachte: Er ruderte mit ihr aufs Meer hinaus, warf sie wie einen Hund ins Wasser, ruderte davon ohne sich umzublicken. Sie überlebte es – „so brachten Partisanen ihren Kindern das Schwimmen bei“, schreibt sie.

Die Zuschauer zittern mit

Diese Härte und Brutalität bestimmt auch Abramovic' erste Performances. „Rhythm 10“ (1973) etwa basiert auf einem Trinkspiel russischer und jugoslawischer Bauern: Man breitet die Hand auf einem Tisch aus und sticht im einem Messer möglichst schnell zwischen die gespreizten Finger. Jedes Mal, wenn man danebentrifft und sich verletzt, muss man einen Schnaps trinken. Und dann geht es wieder von vorne los. Bei einem Festival führte Abramovic „Rhythm 10“ mit zehn Messern ohne Alkohol und mit einem Tonbandgerät auf, dass das „Tack-tack-tack“ und die Schmerzenslaute aufnahm. Am Ende war das Papier, auf dem sie agiert hatte, mit Blutflecken übersäht. Die Zuschauer zitterten mit, verschmolzen mit der Performerin zu einem Organismus. Genau das wollte sie erreichen.

Performance als Gruppenerfahrung. Die Aktionen werden immer brutaler. In „Rhythm 0“ (1974) liefert sie sich dem Galeriepublikum aus, das sie mit 72 Gegenständen traktieren darf – sie quälen und demütigen sie, doch als ein Mann eine Pistole mit einer Kugel lädt und ihr an den Hals setzt, schreitet das Publikum ein und wirft ihn hinaus. In „Thomas Lips“ (1975) ritzt sie sich einen Stern in den Bauch, legt sich blutend bis zur Ohnmacht auf einen Eisblock. 13 Jahre lang geht sie mit dem Performance-Künstler Ulay gemeinsam auf schmerzhafte Entdeckungstouren. Sie gehen an ihre Grenzen, leben wie Nomaden und pilgern auf den Pfaden des weltweiten Performance-Zirkus. Sehr eindringlich schildert Abramovic in ihrer Biografie die Stadien dieser großen Liebe und zwanghaften Beziehung. Als Abramovic und Ulay ihre dreimonatige Aktion auf der Chinesischen Mauer präsentierten – sie liefen von beiden Enden her 2500 Kilometer aufeinander zu – lag die Beziehung bereits in Trümmern.

Die Künstlerin im Blick

2010 sahen sie sich wieder: Da saß Ulay seiner ehemaligen Partnerin in Abramovic' bislang umfangreichster und berühmtester Performance gegenüber: einer von 1500 Menschen, die vom 14. März bis zum 31. Mai im New Yorker MoMA an der Aktion „The Artist is Present“ im Rahmen einer Retrospektive teilnahmen, die 850 000 Besucher sahen. Sharon Stone und Lou Reed, Tilda Swinton und James Franco, Björk und Lady Gaga waren Promis, die sich Abramovic gegenübersetzten. Doch ergreifender für sie waren etwa alte, vom Tod gezeichnete Menschen, Frauen mit ihren kranken Kindern – jeder durfte so lange der Künstlerin in die Augen blicken, wie er wollte. Es war ein riesiges Medienereignis. Wieder war Abramovic, die Monate lang für den Sitzmarathon ohne trinken, essen (und ohne Klo) trainiert hatte, an die Grenzen gegangen. Zumindest bekennt sie, während der Performance „intensiv über den Sinn des Lebens“ nachgedacht zu haben.

Vielleicht auch darüber, was aus der existenziellen Performance geworden ist. 2013 bringt Abramovic zusammen mit Lada Gaga das Video „The Abramovic Method“ heraus. Eine Soft-Version von Abramovic' Performancekunst mit einer nackten Lady Gaga als Akteurin. Allein die 45 Millionen Follower von Lady Gaga sahen das Video. Für Marina Abramovic ein kommerzieller Erfolg und Reklame für ihr Institut. Was von ihr bleiben werde, wurde sie unlängst in der „Zeit“ gefragt: „Ich habe einen Raum erschaffen, in dem Vertrauen entsteht, weil ich mich verletzlich gezeigt habe. Deshalb können sich die Besucher öffnen gegenüber ihrer eigenen Verwundbarkeit. Ich bin der Spiegel, in dem sie sich sehen.“

Marina Abramovic: Durch Mauern gehen. Luchterhand, 475 S., 28 Euro

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