Glosse zur Diskussionskultur In der Scheuklappenfalle

Bonn · Bedient der Kolumnist Harald Martenstein neuerdings rechte Kreise? Ein Beitrag zur Diskussionskultur in Deutschland.

 Journalist, Kolumnist, Romanautor und Querdenker: Harald Martenstein.

Journalist, Kolumnist, Romanautor und Querdenker: Harald Martenstein.

Foto: picture alliance / dpa

Harald Martenstein, Journalist, Kolumnist und Romanautor, hat am 29. Mai in der Bonner Kreuzkirche eine Kanzelrede gehalten. Ein wesentlicher Teil der journalistischen Predigt lebte von medienkritischen und somit selbstkritischen Anmerkungen. Insbesondere die Selbstüberhöhung und den moralischen Rigorismus von Journalisten geißelte der „Zeit“- und „Tagesspiegel“-Autor. Martenstein kann austeilen, das machte die Kanzelrede deutlich. Er muss aber auch einstecken. Der Umgang mit ihm ist seit einer Weile schon in eine bedenkliche intellektuelle Schieflage geraten. Viele seiner Kritiker bedienen Reflexe und Vorurteile. An einem rationalen Diskurs ist ihnen selten gelegen. Dieser Umgang ist repräsentativ für die Qualität der Diskussionskultur in Deutschland.

Ein Beispiel aus jüngster Zeit. In seiner „Tagesspiegel“-Kolumne „Die Schande des Orients“ vom 12. Juni beschäftige Martenstein sich mit der Flüchtlingskrise und dem Massensterben im Mittelmeer. Der Autor zählte drei Gründe für die Migrationswellen und das damit verbundene Sterben auf. Erstens übe das in Frieden und Wohlstand lebende Europa eine große Faszination aus. Zweitens werde den Flüchtlingen nur unzureichend geholfen: „Das ist die Schande Europas.“ Drittens, so Martenstein, würden die Menschen aus Afrika und dem Orient vor ihren Regierungen, den korrupten und kriminellen Eliten, Warlords und religiösen Fanatikern fliehen, „die einen Staat nach dem anderen zerstören“. Martenstein betrachtet das als die Schande Afrikas und des Orients.

An die Analyse knüpfte er zwei Schlussfolgerungen. Grenzenlose Freizügigkeit der Europäer sei keine Option: „Ich glaube, dass es in Europa Chaos, Armut und Bürgerkrieg bedeuten würde.“ Die Krisen Afrikas und des Orients seien nur vor Ort zu lösen: „Die Völker können sich nur selbst von der Schande befreien, die ihre Heimat zerstört.“

Dann kam der Gegenwind. Der Journalist Franz Sommerfeld warf Martenstein via „Carta“, einem Autorenblog für digitale Öffentlichkeit, Politik und Ökonomie, vor, rechte Milieus zu bedienen. Der Kolumnist wechsle immer öfter ins Genre des politischen Leitartiklers und gebe seiner Zeitung eine neue politische Farbe, „mit der er den Zuspruch einer wachsenden Zahl von AfD-Anhängern finden wird“.

Sommerfeld, Jahrgang 1949, der auf eine bemerkenswerte Karriere zurückblicken kann, wirft Martenstein Vereinfachung vor, um im nächsten Moment von ebendiesem Instrument Gebrauch zu machen. Für Martenstein reduziere sich „die europäische Verantwortung für die Flüchtlingsbewegung darauf, dass es den Europäern gut gehe und sie die Seenotrettung verbessern könnten. Ansonsten seien die Schwarzen an ihrem Unglück selbst schuld, weil sie ihre eigenen Diktatoren nicht stürzen würden.“ Sommerfelds Fazit: „In der Reduzierung liegt seine Demagogie.“

So schnell wird man in Deutschland zum Demagogen und zum informellen Mitarbeiter der AfD. Intellektuelle wie Peter Sloterdijk wissen ein Lied davon zu singen. Statt sich auf eine produktive Debatte einzulassen – Was würde grenzenlose Freizügigkeit gesellschaftlich und ökonomisch bedeuten? –, setzen kritische Geister wie Sommerfeld lieber ideologische Scheuklappen auf und sprechen unbequemen Autoren ab, für die Werte der Aufklärung und Humanität einzutreten. Nicht das Argument, sondern sein Urheber wird dekonstruiert. Franz Sommerfeld müsste es eigentlich besser wissen, er kennt die Texte Martensteins. Deren Fundament sind ausgerechnet Aufklärung, Humanität – und „common sense“.

Martenstein fechten kritische Kommentare und polemische Attacken nicht an, im Gegenteil. „Sie tun meiner Produktivität gut. Ich kommen dann richtig in Fahrt“, sagte er im „Moontalk“ auf WDR 2.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort
Augenblick
Trends 2016 bei Sonnenbrillen Augenblick