Buchbesprechung Hamlet im Kopf – und auch im Bauch

Bonn · Ein Fötus erzählt: "Nussschale" heißt der ungewöhnliche und spannende neue Roman des britischen Schriftstellers Ian McEwan.

 Intelligent und feinfühlig: Der britische Erzähler Ian McEwan in Barcelona.

Intelligent und feinfühlig: Der britische Erzähler Ian McEwan in Barcelona.

Foto: picture alliance / dpa

So, hier bin ich, kopfüber in einer Frau.“ Mit diesen Worten stellt sich ein ungeborener, namenloser Knabe vor, der eigentlich Hamlet heißen müsste. Schließlich steckt er nicht nur in der Plazenta, sondern mitten in einem Shakespeare-Komplott. Die ehebrecherische Mutter heißt hier freilich statt Gertrud kurz Trudy, während Brudermörder Claudius zu Claude wird.

Zwar geht es nun in Ian McEwans neuem Roman „Nussschale“ nicht um Reich und Krone. Wohl aber um ein bei aller Verwahrlosung wertvolles Haus in London, das Claude und Trudy ihrem Bruder/Gatten meuchlerisch entreißen möchten. Das Opfer, der erfolglose Lyriker und Kleinverleger John Cairncross, ahnt offenbar nichts, während sich sein Sprössling im Bauch gegen sein drohendes Halbwaisenschicksal stemmt.

Als Lauscher an der blutdurchströmten Wand verdankt er sein enzyklopädisches Wissen vor allem dem Radiokonsum der Mama, dem er nachts schon mal durch einen gezielten Tritt nachhilft. „Grausam, ich weiß, aber am nächsten Morgen waren wir beide besser informiert.“ Der ungeborene Knirps ist dank des Alkoholkonsums der Verschwörer schon ein veritabler Weinkenner, der natürlich einen Echézeaux Grand Cru erkennen würde.

Ebenso wie er Claudes „fades, saftloses Gesülze“ durchschaut – und leider auch Trudy anmerkt, „wie eine Kruste der Langeweile ihre Netzhaut überzieht“, wenn ihr John Gedichte vorliest.

Gegen jede Vernunft, aber mit frappierendem Effekt ist der ungeborene Ich-Erzähler mit all jener Beobachtungsfinesse und Sensibilität gesegnet, die den britischen Schriftsteller („Abbitte“, „Kindeswohl“) auszeichnen. Der in der dunklen Bauchhöhle schwimmende Fötus hat hier den besten Durchblick, erspürt am „Murmeln und Tröpfeln“ des bergenden Körpers Trudys feinste Regungen. Doch obwohl er gar nicht anders kann, als sich die Mutter wunderschön vorzustellen, seziert er mit filigranem Sprachbesteck die grobschlächtigen Ränke der Erwachsenen (Frostschutzmittel im Smoothie).

Ian McEwan kostet die Absurdität seiner Konstruktion mit überwältigender Einfallsfülle und Delikatesse aus, denn natürlich sind dem hellwachen Winzling fast keine Taten möglich. Mit ihm werden wir ohnmächtig-gebannte Zeugen des Mordkomplotts und all seiner Tücken, die für veritable Krimispannung bürgen. Und natürlich hat der kleine Erzähler bei all dem seinen Hamlet im Kopf und schwört der Rache für den vergifteten Vater vorsichtshalber schon vor dem Verbrechen ab.

Doch diese Chronik eines angekündigten Todes wird dank McEwans Genie auch eine Hymne an das Leben. Zwar kennt der kluge Mini-Mensch alle Krisenherde der Welt, auch das Flüchtlingsproblem, vor dem sich „Europa, die alte Dame, zwischen Mitleid und Furcht, zwischen Einladen und Zurückweisen“ windet.

Aber er will partout wissen, wie all dies ausgeht und glaubt an „ein Leben nach der Geburt“. Denn was wartet da alles: „Wein aus dem Glas statt durch die Plazenta, Bücher direkt im Lampenlicht, Musik von Bach, Spaziergänge am Strand, Küsse im Mondlicht“. So intelligent, feinfühlig und sehnsüchtig hat sich ungeborenes Leben noch nie angehört, und wer weiß: Vielleicht setzt Hamlets kleiner Bruder ja Shakespeares „Auge um Auge“-Mechanik außer Kraft.

Ian McEwan: Nussschale. Roman, deutsch von Bernhard Robben. Diogenes, 208 S., 18,99 Euro.

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