Zurück aus der Hölle Ein Treffen mit Überlebenden der Colonia Dignidad

Erst jetzt, im Jahr 2017 reagierte der Bundestag auf das düstere, lange verdrängte Kapitel bundesdeutscher Geschichte: die Colonia Dignidad. Das Parlament fordert die Aufarbeitung, strafrechtliche Konsequenzen sowie ein Entschädigungskonzept. Ein Besuch bei zwei Opfern, die auf späte Gerechtigkeit hoffen.

Weites Land, Felder bis zum Horizont, nur Windräder und Strommasten strukturieren die Vertikale. Hüls, ein ländlicher Vorort Krefelds. Hier wohnen die Wagners. Auf 62 Quadratmetern im ersten Stock, der winzige Balkon ein Paradies für Vögel, gefüttert wird ganzjährig. „Auch die Eichhörnchen kommen gerne zu Besuch“, versichert Heinrich Wagner stolz. Im altdeutschen Wohnzimmer schmücken zwei Schäferhunde aus Porzellan den Fernsehtisch.

Es gibt Eiskaffee mit Vanillekugeln und dazu Gebäck. Für den Besuch aus Bonn hat sich das Ehepaar fein gemacht: Heinrich Wagner trägt bayerische Wildlederhose und ein Hemd mit Edelweiß-Stickereien, seine Frau Irmgard Rüschenbluse, rote Weste, weiße Söckchen und eine Schürze über dem blauen Rock. Ihr Haar hat sie zu Zöpfen geflochten. „Man sollte ein ehrbares Leben führen“, sagt Irmgard Wagner mit sanfter Mädchenstimme.

Deutscher geht’s nicht. Dabei haben die Wagners die meiste Zeit ihres Lebens nicht in Deutschland zugebracht, sondern in Chile, am Fuß der Anden, 450 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago. Hinter Stacheldraht; die Tore sicherten bewaffnete Wachmannschaften und bissige Schäferhunde. Schon als Kinder lebten sie dort, mit weiteren 360 Deutschen. Fernseh-Verbot, Radio-Verbot, Telefon-Verbot, abgeschottet von der Welt. In einem Lager, das sich „Kolonie der Würde“ (Colonia Dignidad) nannte, aber einem KZ glich, bis hin zum Lager-Motto: „Arbeit macht frei“.

47 Jahre lang haben Irmgard und Heinrich dort von frühmorgens bis spätabends geschuftet. Als billige Sklaven, bar jeder Rechte, ohne Entlohnung. Wer nicht spurte, erntete brutale Schläge, subtile Gehirnwäschen, Experimente mit Psychopharmaka und Rattengift, Folterungen per Elektroschock.

Was Freiheit ist, erfährt Irmgard erst im 21. Jahrhundert

Keinen Cent Rente kriegen die Wagners heute. Weil der gottähnliche Herrscher dieser „Kolonie der Würde“, der in Bonn geborene Paul Schäfer, für sie nie in die Rentenkasse eingezahlt hat. Und weil der Sektenführer über Jahrzehnte von der deutschen Botschaft in Chile, vom Auswärtigen Amt in Bonn und von allerlei Mächtigen in Deutschland gedeckt wurde.

Heinrich ist heute 71 Jahre alt, Irmgard wird diesen Monat 72. Obwohl sie sich schon eine Ewigkeit kennen, durften sie erst im Jahr 2002 heiraten und ihre Zuneigung legalisieren – nachdem Schäfer nach Argentinien geflohen war.

2005 kehrten sie nach Deutschland zurück, nachdem Verwandte aus der Heimat die Flug-tickets bezahlt hatten. Da war Irmgard 60 und wusste nicht, was Sexualität bedeutet, sagt sie. Denn Sexualität war im Lager streng verboten. Schon der offene Blickkontakt zwischen Insassen unterschiedlichen Geschlechts zog drakonische Strafen nach sich. Kinder und Erwachsene (auch Ehepaare und Familien) waren nach Geschlechtern getrennt in verschiedenen Häusern untergebracht. Auch wie sich Freiheit anfühlt, lernten Irmgard und Heinrich Wagner erst im 21. Jahrhundert kennen.

Heinrich wird 1946 im münsterländischen Gronau geboren, Irmgard 1945 im österreichischen Graz. Sie wachsen in gottesfürchtigen Familien auf; die Erwachsenen traumatisiert von den Schrecken des Krieges, Halt und Heil suchend in freikirchlichen Gemeinden – und gewohnt, sich Autoritäten widerspruchslos zu unterwerfen. Eines Tages taucht dieser charismatische Manipulator aus dem Rheinland auf. Er tourt durch das zerbombte Tausendjährige Reich, um seine Anhängerschaft zu mehren. Paul Schäfer predigt vom Satan, von frommer Besitzlosigkeit und sexueller Askese. Vor allem die Frauen verehren ihn; dabei verachtet er Frauen zutiefst.

Ein kleiner, privater Terror-Staat vor den Toren der Hauptstadt

Die Gläubigen müssen ihm in Beichten, die sorgsam protokolliert und archiviert werden, ihre intim-sten Geheimnisse anvertrauen – später ihre Lohntüten und ihre bescheidenen Besitztümer, zuletzt auch ihre Kinder. Beim Amtsgericht Siegburg wird die Private Sociale Mission als gemeinnütziger Verein eingetragen, der „mildtätige Zwecke“ verfolge: die „Aufnahme gefährdeter Jugendlicher“ – obwohl Schäfer zuvor im Siegburger Raum von katholischen wie evangelischen Trägern amtskirchlicher Einrichtungen mehrfach der Job als Jugendpfleger gekündigt worden war – wegen Verdachts der Pädophilie.

1954 lässt Schäfer in der Ortschaft Heide, 20 Kilometer östlich der neuen Bundeshauptstadt Bonn, ein Kinderheim bauen – und errichtet dort wenige Jahre nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes seinen kleinen, privaten Terror-Staat. Unter den Sektenmitgliedern sind tüchtige Handwerker, die Gebäude der „Jugendheimstatt“ entstehen in Eigenleistung nach Feierabend.

Irmgard und ihre Zwillingsschwester kommen 1959 in Schäfers Heim (und werden gleich nach der Ankunft getrennt), Heinrich schon 1957. Seine alleinstehende Mutter arbeitet als Kellnerin in Holland, Heinrich wächst bei der Großmutter auf. Die lässt sich überzeugen, dass es der Elfjährige im Heim viel besser habe. „Schäfer holte mich in Gronau mit seinem Mercedes ab“, erinnert sich Heinrich Wagner an den Tag vor 60 Jahren.

„Während der mehrstündigen Fahrt sprach er kein einziges Wort mit mir. In Heide angekommen, führte er mich sofort in sein Schlafzimmer und schloss die Tür. Auf dem Nachttisch lag eine Pistole.“ Heinrich schweigt einen Moment, hängt seinen Gedanken nach. In die Stille sagt Irmgard: „Wir waren doch Kinder. Unschuldige Kinder. Wir sind vom Himmel in die Hölle gekommen.“

Der deutsche Botschafter ist gern gesehener Gast im Folterlager

Seine Hausaufgaben macht Heinrich nachts, denn nach der Schule muss er mit der Schaufel Entwässerungsgräben ausheben. Und einmal, weil er nach Schäfers Meinung nicht richtig spurte, mutterseelenallein einen Acker umpflügen. Niemandem konnte man mehr trauen, sagt Heinrich: „Man wurde von den besten Freunden verraten.“

Als Irmgard gefragt wird, welche Farbe eine Blume habe, und sie wahrheitsgemäß antwortet, sie sei rot, wird ihr gesagt: Nein, die Blume ist jetzt weiß. Also: Welche Farbe hat die Blume? Sie antwortet erneut wahrheitsgemäß. Da setzt es Schläge. „Ich wurde oft geschlagen, weil ich bei der Wahrheit blieb. Später kamen dann die Elektroschocks dazu, die Tabletten und die Spritzen für die Gehirnwäsche. Aber ich konnte nicht anders, als bei der Wahrheit zu bleiben. Ich wollte doch später im Himmel aufrecht vor meinen Herrgott treten können.“

In den Schlafzimmern des Heims sind Abhöranlagen installiert. Schäfers Vokabular: „In abendlichen Herrenrunden gefallene Mädchen züchtigen. Diese Schminkpuppen! Schinkenklopfen, um die Hurengeister auszutreiben.“

Das Ermittlungsverfahren: „Unzucht mit Abhängigen“

1961 hat die Kripo die Aussagen zweier vergewaltigter Jungen auf dem Tisch. Doch bis die Bonner Staatsanwaltschaft mit dem Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der „Unzucht mit Abhängigen“ in die Gänge kommt, ist Schäfer schon gewarnt und verschwunden. Der Kinderschänder fliegt nach Chile und kauft eine Farm. Schäfers Führungsstab bereitet derweil die Gemeinde auf den Exodus vor, den Umzug ins „gelobte Land“, indem die größte Angst dieser Menschen reaktiviert wird: Es sei jetzt nur noch eine Frage der Zeit, bis der Russe in Westdeutschland einmarschiere.

Sämtliche möglichen Zeugen der Anklage, 150 Heimkinder, werden nach Chile verfrachtet, ohne dass es eine deutsche Behörde interessiert hätte. Das verlassene Heim in Heide verkauft die Sekte an die Bundeswehr, darin schlägt der Generalarzt der Luftwaffe seinen Dienstsitz auf. Mit deutschen Steuergeldern – den 900.000 Mark Erlös aus dem Verkauf – wird der Neuanfang in Chile finanziert. Dienstherr der Bundeswehr ist in jener Zeit Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß.

Der ist später gern gesehener Gast im Lager, ebenso wie der christdemokratische Siegburger Bürgermeister und Bundestagsabgeordnete Adolf Herkenrath, der Königswinterer Kriegswaffenhändler Gerhard Mertins oder der deutsche Botschafter in Santiago, Erich Strätling. Der verbürgt sich in den 70er Jahren persönlich beim Auswärtigen Amt für Schäfer, lobt dessen „Mustergut“ und wischt die Vorwürfe von Amnesty International vom Tisch. Am Ende seiner Zeit in Chile wird Strätling das Große Bundesverdienstkreuz verliehen.

Opfer aus dem Knabenhaus

„Arbeit ist Gottesdienst“, predigt Schäfer. Zweifelnde Sektenmitglieder werden mit öffentlichen Züchtigungen, Elektroschocks und Psychopharmaka zurück in die Spur gebracht. Nachts wählt Schäfer im Knabenhaus die Opfer für seine perversen Spiele aus. Wer sich in Schäfers Bett willfährig zeigt, kann zum „Sprinter“ aufsteigen, zum Laufburschen des Führers.

Schäfer perfektioniert seine Theologie des Terrors. Den arbeitsfreien Sonntag und christliche Feiertage schafft er ab. Von Nächstenliebe oder vom barmherzigen Gott, der Sünden vergibt, ist nicht mehr die Rede; nur noch vom Teufel, der ständig alle in Versuchung führe.

Irmgard und Heinrich sind bald die schwarzen Schafe im Lager. Irmgard, weil sie stets bei der Wahrheit bleibt und jeder Gehirnwäsche tapfer standhält. Heinrich, weil er sich den Avancen Schäfers verweigert. Da entschließt sich Heinrich in einem günstigen Moment zur Flucht. Er schafft es tatsächlich bis nach Santiago, bis in die deutsche Botschaft.

Dort verspricht man dem deutschen Staatsbürger, ihn nach Deutschland auszufliegen – und lässt ihn stattdessen von Schäfers Schergen abholen. „Zurück im Lager, erhielt ich unter Schäfers Aufsicht Tritte in die Genitalien und Elektroschocks. Dann kam ich in Einzelhaft. Meine Zelle war 1,50 mal zwei Meter groß und mit Mikrofonen versehen. Tagsüber Zwangsarbeit, danach in die Zelle. Für die nächsten Jahrzehnte. Bis Schäfer verschwand.“

Der WDR fragte vor ein paar Jahren beim Auswärtigen Amt an, warum man den deutschen Staats-angehörigen und vor allem jenen, denen die Flucht gelungen war und die in der deutschen Botschaft Schutz suchten, nicht geholfen habe. Die schriftliche Antwort aus Berlin: „Die vor mehreren Jahrzehnten geschehenen Ereignisse lassen sich heute leider nicht mehr nachvollziehen.“

„Sollen etwa die Steine schreien?“

Erst Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur ermittelt die chilenische Justiz erstmals ernsthaft gegen Schäfer. Einem Haftbefehl entzieht er sich 1998 durch Flucht über die nahe argentinische Grenze. Erst im Juni 2005 stöbert ihn die Polizei in Buenos Aires auf und liefert ihn nach Chile aus.

Am 24. Mai 2006 wird der 84-jährige Schäfer in Santiago wegen des sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Freiheitsstrafe von zwanzig Jahren verurteilt. Weitere Ermittlungen und Verurteilungen, unter anderem wegen Giftmords, folgen in Haft, die Gefängnisstrafe wächst auf 33 Jahre. Viel davon muss er nicht mehr verbüßen: Am 24. April 2010 stirbt Paul Schäfer mit 88 Jahren im Gefängnishospital von Santiago an einem Herzleiden.

Immer wieder kommen Irmgard Wagner die Tränen, wenn sie vom Lager erzählt. „Aber wenn wir nicht reden ... sollen etwa die Steine schreien? Wie soll denn sonst die Wahrheit ans Licht kommen?“ Nach zwei Stunden muss sie sich hinlegen. Noch immer leidet sie unter den Folgen der schweren, jahrzehntelangen Misshandlungen.

Heinrich Wagner redet noch eine Stunde weiter. Wie ein Wasserfall. Keine Sekunde kann er stillsitzen. Selbst seine Hände finden keine Ruhe, kneten das Papier, das er seinen Aktenordnern entnimmt. Fein säuberlich sind sie abgeheftet, die Dokumente des Schreckens.

So viel gearbeitet wie kaum jemand in Deutschland

Dann zeigt er stolz ein Foto von einem Haus, dass er im Lager baute, sogar die Pläne dafür hat er gezeichnet, „wie ein Architekt“. Und ein Foto von der Wendeltreppe, die er im Lager schmiedete. Er ist dankbar für das bisschen Aufmerksamkeit und die Anerkennung seiner Lebensleistung in den drei Stunden des Besuchs. Damit nicht alles umsonst gewesen war. Das würde kein Mensch aushalten.

Im Lager war er als Krankenpfleger tätig, in Deutschland pflegte er seine Mutter und jetzt seine Frau. Irmgard und Heinrich Wagner begreifen nicht, dass Recht und Gerechtigkeit auch in Deutschland nicht immer dasselbe sind, und dass die öffentliche Entschuldigung eines deutschen Außenministers noch nicht automatisch bedeutet, dass die Opfer angemessen entschädigt werden. Vergangenes Jahr sagte Frank Walter Steinmeier: „Über viele Jahre hinweg haben deutsche Diplomaten bestenfalls weggeschaut.“

Fast ein Leben lang haben die als Kinder Entführten so viel und so hart gearbeitet wie wohl kaum jemand in Deutschland – für die Colonia Dignidad, lange Zeit eines der umsatzstärksten Unternehmen Chiles. Nach der Rückkehr 2005 lebte das mittellose Paar elf Jahre lang von monatlich 725 Euro Sozialhilfe. Seit einem Jahr zahlt der Landschaftsverband Rheinland 1400 Euro pro Monat. Als Entschädigung. Davon müssen sie allerdings ihre Miete bezahlen – 500 Euro.

Kürzlich erfuhren sie aus dem Fernsehen, dass die Colonia Dignidad, die sich heute „Villa Baviera“ (Bayerisches Dorf) nennt, jährlich 250.000 Euro vom deutschen Staat erhält. Nutznießer sind auch die dort noch lebenden ehemaligen Peiniger der Wagners.

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