Zwei Stunden Auszeit Ehrenamtliches Engagement in Bonn

Bonn · Ehrenamtliches Engagement muss seinen Weg zu den Bedürftigen finden. Evelyn Lackner und Béatrice Schneider fällt es nicht immer leicht, die emotionale Distanz zu wahren.

Die deutsche Sprache ist gar nicht so einfach mit ihren ganzen Umlauten. Der Mann, der auf einem Collegestuhl in der vorletzten Reihe des provisorischen Klassenraums sitzt, möchte sagen, dass „glücklich“ das Gegenteil von „traurig“ ist. Bei ihm klingt es aber eher wie „gluuucklick“.

Vorne steht Evelyn Lackner, gelernte Journalistin und bereits im Ruhestand. „Sagen Sie noch mal “Tschüüüß„“. Der Mann im gestreiften T-Shirt tut wie ihm geheißen. „Ja genau, und so jetzt auch “glüüücklich„“, sagt Lackner begeistert und demonstriert mit ausdrucksstarker Mimik die Mund-bewegung des für Ausländer schwierigen Umlauts. Nach drei weiteren Ver-suchen klingt es bei ihrem Schüler schon fast nach einem klaren „ü“.

Diese kleinen Erfolge sind es, die Lackner und ihre Kollegin Béatrice Schneider motivieren. Die beiden gehören zu einem fast 30-köpfigen Team aus Ehrenamtlichen, die in der Bonner Ermekeilkaserne Deutsch unterrichten. Ihre Schüler sind Flüchtlinge. Seit Mai 2016 beherbergt das ehemalige Bundeswehrgelände in der Bonner Südstadt eine Erstaufnahmeeinrichtung (EAE) samt Ankunftszentrum, denn auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) ist vor Ort untergebracht.

„Wir machen bewusst keinen klassifizierten Deutschunterricht. Dafür bleiben die Menschen zu kurz in der Ermekeilkaserne. Wir können sie aber so zwei Stunden am Tag sinnvoll beschäftigen und ihnen einen ersten Kontakt zur Sprache und auch zu den Einheimischen bieten“, erklärt Lackner.

Begrüßung, Danke, Bitte - es geht um die Basics

Der Unterrichtsstoff sind die Basics für den Alltag: Begrüßung, Farben, Uhrzeit, Wochentage, Zahlen, Danke, Bitte – und aus welchen Ländern die Flüchtlinge kommen, welche Sprachen sie sprechen. Die Lehrer sind allesamt Ehrenamtliche: Studenten, Theologen, Buchhändler, Hausfrauen, pensionierte Lehrer und manchmal auch Flüchtlinge, die in ihrer Heimat bereits angefangen haben, Deutsch zu sprechen.

Das Lernniveau ist ganz unterschiedlich: „Manchmal hat man hier zum Beispiel einen Kardiologen aus Syrien sitzen, der in Russland am Goethe-Institut bereits das europäische Sprachlevel B1 (selbstständige Sprachanwendung) erreicht hat, und dessen Ziel C1 (kompetente Sprachverwendung) ist“, erzählt Schneider. „Andererseits hat man hier aber auch die Menschen vor sich, die bis vor ein paar Wochen noch in einem Zelt irgendwo in der Wüste saßen“, ergänzt Lackner.

Die beiden Frauen sind ein eingespieltes Team und kennen sich schon seit Gründung der Starthilfe Deutsch im Juli vor zwei Jahren. So wie die anderen Ehrenamtlichen möchten sie den Flüchtlingen einen einfacheren Start in ein neues Leben ermöglichen – zumindest was ihre Deutschkenntnisse betrifft.

„Es ist nicht üblich, schon in der Erstaufnahme ein Sprachangebot zu haben. Es kann teilweise ein Jahr dauern, bis die Menschen in einen Integrationskurs kommen“, erzählt Monique Wendisch. Sie ist Sozialarbeiterin vom Deutschen Roten Kreuz (DRK) und koordiniert die Ehrenamtsarbeit in der Ermekeilkaserne. Bis zu 800 Menschen können dort untergebracht werden.

Jede Stunde eine Wundertüte

In der Ermekeilkaserne findet nach Möglichkeit das gesamte Asylverfahren statt: von der ärztlichen Untersuchung über die Aufnahme der persönlichen Daten und der Identitätsprüfung, von der Antragstellung und Anhörung bis hin zur Entscheidung über den Asylantrag – und das möglichst innerhalb einer Woche. Für dieses Verfahren müssen die Flüchtlinge zu einigen Terminen erscheinen, doch die restliche Zeit des Tages sitzen sie in ihrer Unterkunft und warten.

„Mit unserem Unterricht der Starthilfe Deutsch möchten wir den Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwei Stunden Ablenkung schenken“, erzählt Lackner. Fast täglich finden mehrere solcher Unterrichtseinheiten statt, immer von mindestens zwei Lehrern geführt. Jede neue Stunde sei eine Wundertüte, versichert Lackner. Sie wisse schließlich nie, wer und wie viele vor ihr sitzen werden. Insgesamt ist alles sehr flexibel. Auch über die konkreten Inhalte wird spontan entschieden.

Kurz vor ihrem Unterricht um 10 Uhr treffen sich Lackner und Schneider zu einem Muntermacher-Kaffee. „Dann besprechen wir uns ganz kurz und tauschen Neuigkeiten aus“, erklärt die frühere Journalistin. Béatrice Schneider kommt eigentlich aus dem Marketingbereich. Die 46-Jährige hat durch ihr Engagement bei der Starthilfe Deutsch einen zweiten Bildungsweg eingeschlagen und beendet derzeit ihre Weiter-bildung zur Fremdsprachenlehrerin.

Die übrige Welt bleibt draußen

Wenn die beiden Bonnerinnen vor ihren Schülern stehen, versuchen sie deren familiäre Hintergründe sowie Erlebnisse der letzten Tage, Wochen oder auch Jahre auszublenden. „Ich habe für mich beschlossen: Ich möchte das alles gar nicht so genau wissen. Sonst lässt mich das nicht mehr los“, sagt Evelyn Lackner. Es sei reiner Selbstschutz. Auch Schneider denkt so: „Die übrige Welt bleibt draußen vor der Klassenzimmertür. Wir wollen einfach nur zwei Stunden Spaß und Abwechslung bieten und dabei ein paar Deutschkenntnisse vermitteln.“

Ihr Ziel sei es nicht, ein perfektes Deutsch zu vermitteln. „Viel mehr geht es darum, ein erstes Willkommen an die Menschen zu richten, die hier vielleicht bald leben werden“, erzählt Lackner. Außerdem sei es schwer, von Lernerfolg zu sprechen. Die Flüchtlinge sollen hingegen mehr Selbstvertrauen bekommen und ihre Hemmungen vor der der neuen Sprache verlieren. Die Schüler wissen dieses Angebot zu schätzen. Zahlreich und regelmäßig finden sie den kurzen Weg von ihrer Unterkunft zu dem improvisierten Klassenraum mit den gestifteten Collegestühlen und den gespendeten Schreibblöcken.

Die Lehrer kommen hingegen von außerhalb des Geländes und müssen deshalb weiter laufen, denn die Kaserne zwischen der Ermekeilstraße und der Reuterstraße ist groß. Für sie geht es zunächst durch ein Eingangstor, an dem ein freundlich grüßender Pförtner sitzt, dann über den Hof, vorbei an einem extra für Flüchtlingskinder gebauten Spielplatz, bis sie vor einem Gebäudetrakt in der hintersten Ecke stehen.

Plakate erinnern an Deutschland 1945

Geht man in das Haus hinein und die Treppe hinauf, läuft man direkt auf eine große Infotafel zu. Zum einen hängt dort ein Wochenplan mit allen Aktivitäten und Angeboten. Ein Clip art mit einem Männchen, das vor einer grünen Tafel steht und zu dessen Mund eine Sprechblase mit der deutschen Flagge zeigt, kündigt den Unterricht der Starthilfe Deutsch an.

Etwas weiter links auf dem Infoboard hängen drei Plakate mit Fotos. „I'm looking for my ...“ steht in großen Lettern darüber. Darunter sind Flüchtlinge abgebildet, und in einem weißen Kästchen unter ihren Gesichtern steht mal „sister“, mal „parents“, oder „family“.

Diese Plakate erinnern an Deutschland nach 1945, als mehr als 30.000 Kinder über den DRK-Suchdienst ihre Eltern wiederfinden wollten. Nicht anders geht es den Flüchtlingen, die in der heutigen Zeit nach Europa kommen. Viele von ihnen haben auf der langen Reise ihre Familienangehörigen verloren und suchen nun nach ihnen – genau wie die Findelkinder nach dem Zweiten Weltkrieg.

Auch Lackner ist beim Treppenlaufen auf diese Plakate aufmerksam geworden. „Oh, die hängen aber noch nicht lange da“, sagt die 67-Jährige und lässt ihren Blick darüber schweifen – doch nur kurz, dann dreht sie sich weg und streicht sich über ihren Unterarm. Sie hat Gänsehaut. „Ich darf da wirklich nicht so genau drüber nachdenken. Wie furchtbar das sein muss“, sagt sie und schaut bedrückt auf die schwarzen Bodenfliesen. Trotz Selbstschutz und aller guten Vorsätze sei es nicht immer leicht, die emotionale Distanz zu wahren.

Freiwillige, die sich der Starthilfe Deutsch anschließen möchten, könnensich bei Monique Wendisch per Mail an m.wendisch@drk-bse.de informieren

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