Debattenkultur in Deutschland Die große Gereiztheit

Namhafte deutsche Intellektuelle wie Rüdiger Safranski und Peter Sloterdijk setzen sich kritisch mit der Flüchtlingspolitik von Kanzlerin Angela Merkel auseinander. Das stößt im linksliberalen Milieu auf Widerstand.

 Das Recht auf freie Meinungsäußerung nimmt er gern und oft wahr: Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk.

Das Recht auf freie Meinungsäußerung nimmt er gern und oft wahr: Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk.

Foto: picture alliance / dpa

Der deutsche Philosoph, Kulturwissenschaftler und Autor Peter Sloterdijk, 68, hat eine Meinung zur Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Mit dieser Meinung hält er nicht hinterm Berg, er nimmt sein Recht auf freie Meinungsäußerung gern wahr. Im Interview mit „Cicero“, dem „Magazin für politische Kultur“ aus Berlin, hat Sloterdijk den Redakteuren Christoph Schwennicke und Alexander Kissler seine Sicht der Dinge („Überrollung“) vermittelt. Das Februar-Heft von „Cicero“ hat Mediengeschichte geschrieben. Denn das Sloterdijk-Interview empfanden manche Beobachter als Igitt-Erlebnis, wenn nicht als Tabubruch.

Der Erziehungswissenschaftler und Autor Micha Brumlik, emeritierter Professor der Universität Frankfurt, urteilte im Deutschlandradio Kultur, der Stammtisch werde salonfähig. Meinungen vom rechten Rand, die sich Intellektuelle und Publizisten zu eigen machten, fänden ihren Weg nun auch in anspruchsvollere Feuilletons. Er nannte in diesem Zusammenhang Rüdiger Safranski und Sloterdijk, „der im 'Cicero' ganz ungeniert absurde Verschwörungstheorien beschwört“. Die USA würden danach „die Flüchtlinge nach Europa lenken, um die EU zu schwächen“. Prompt wurde Sloterdijk zum Thema in einer Radiodiskussion über Hetze im Internet. Die munitioniere er womöglich mit seinen Worten.

Christian Schröder schrieb im „Tagesspiegel“: So scharf und spöttisch wie von Sloterdijk im „Cicero“ sei der „Wir schaffen das“-Optimismus von Angela Merkel noch nicht kritisiert worden. Sloterdijk sei aber nur die Spitze des Eisbergs: „Einige von denen, die sich jetzt zu Wort melden, haben schon den Stahlhelm aufgesetzt. Stacheldraht ersetzt die Argumentation. Metaphern werden entsichert.“ Auf Schröders Anklagebank der neuen Nationalkonservativen saßen neben Safranski und Sloterdijk der Büchner-Preisträger Reinhard Jirgl sowie Botho Strauß. Jirgl hat in der Winter-2015/16-Ausgabe von „Tumult“, der „Vierteljahresschrift für Konsensstörung“ aus Dresden, einen Aufsatz zum Thema „Die Arglosen im Inland“ veröffentlicht. Darin macht auch er die USA für Migrationsbewegungen verantwortlich. Die USA hätten die Absicht, Europa wirtschaftlich und politisch zu deregulieren.

Der Autor Botho Strauß hat 2015 in seinem Beitrag „Der letzte Deutsche“ im „Spiegel“ den Verlust geistesgeschichtlicher Traditionen in Deutschland beklagt und die Sorge geäußert, dass die „Flutung des Landes mit Fremden eine Mehrzahl solcher bringt, die ihr Fremdsein auf Dauer bewahren und beschützen“. Danach tauchten viele Feuilletonisten ihre Federn in ätzende Tinte. Das Problem: Straußens verschwurbelte Prosa war nicht richtig zu fassen. Trotzdem hieß es an einer Stelle apodiktisch: „Es sind Betrachtungen, die aus dem Abseits kommen.“ Ein anderes Beispiel: Der Philosoph Rüdiger Safranski bemerkte Ende September: „Die Politik hat die Entscheidung getroffen, Deutschland zu fluten.“ Und: „Wenn die Kanzlerin sagt, Deutschland wird sich verändern, da möchte ich doch bitte gefragt werden.“ Er erntete Häme und die Frage von erneut Christian Schröder im „Tagesspiegel“: „Wollte Safranski an der bayrisch-österreichischen Demarkationslinie stehen und bestimmen, wer rüberdarf und wer nicht?“

Nun ist es nicht so, dass Angela Merkels Flüchtlingspolitik in der öffentlichen Debatte sakrosant ist. Altkanzler Gerhard Schröder lobte seine Amtsnachfolgerin zuletzt für ihren humanitären Einsatz, hob aber hervor, dass sie den Ausnahmefall zum Normallfall gemacht habe. Der ehemalige amerikanische Außenminister Henry Kissinger sieht die Kanzlerin in einem Dilemma. Sie müsse „abwägen zwischen dem Leid der Flüchtlinge und den langfristigen Auswirkungen auf ihr Volk“. Paul Collier, berühmter Migrationsforscher und Oxford-Professor, urteilte über die Politik der Kanzlerin: „Ich verstehe bis heute nicht, warum Frau Merkel so gehandelt hat. Sie hat Deutschland und Europa damit definitiv ein gewaltiges Problem aufgebürdet, das sich nun auch nicht mehr so einfach lösen lässt.“

Alles akzeptable Positionen, denen in der Regel ein rationales Für und Wider, ein Austausch von Argumenten folgt. Aber wenn die konservative Intelligenz des Landes sich kritisch zur Flüchtlingskrise artikuliert, gehen „juste milieu“ und linksliberale Feuilletons wie einst das HB-Männchen in die Luft. Die Energie für diese Empörungsrituale ist schier unerschöpflich. Dann heißt es, siehe oben, der Stammtisch werde salonfähig. Wenn der Stammtisch sich so eloquent auszudrücken weiß wie Sloterdijk & Co., muss einem um Deutschlands Debattenkultur nicht bange sein. Außerdem: Wo steht geschrieben, dass der Stammtisch immer unrecht habe?

Wer sich die Mühe macht, Peter Sloterdijks mehrseitige Ausführungen im „Cicero“ zu lesen, wird diskutable Gedanken zum Terror im 21. Jahrhundert finden, zur Medienwelt heute – ihrer angeblichen „Verwahrlosung“ und zügellosen Parteinahme – und zum Selbstverständnis der kritischen Intelligenz in Europa. Daneben erläutert Sloterdijk seine integrationsskeptische These „Mit dem Islam lässt sich keine authentische Zivilgesellschaft füllen“.

Über die „Grenzvergessenheit“ der deutschen Politik kann er sich echauffieren: „Die deutsche Regierung hat sich in einem Akt des Souveränitätsverzichts der Überrollung preisgegeben. Diese Abdankung geht Tag und Nacht weiter.“ Das werde nicht gut gehen, Merkel werde zurückrudern. Eine effiziente gemeinsame europäische Grenzpolitik werde am Ende des Prozesses stehen: „Es gibt schließlich keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung.“

Wir leben in einer Epoche der „großen Gereiztheit“, wie es der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik treffend beschrieben hat. Dabei wäre Gelassenheit so nötig. Doch beim Thema Flüchtlinge sind starke Gefühle im Spiel, die Nerven liegen blank. Oft bleibt dann die Debattenkultur auf der Strecke. Warum ausgerechnet die intellektuelle Gemeinde so schnell bereit ist, unbequeme, das eigene Weltbild in Frage stellende Positionen als Häresie zu schmähen, erscheint rätselhaft; das ist alles andere als produktiv. „Wenn Deutschland nicht will, dass die Themen Islam und Flüchtlinge vom rechten Rand instrumentalisiert werden, dann müssen diese endlich in die Mitte der Gesellschaft getragen und offen und ehrlich diskutiert werden“, stellte der Politikwissenschaftler und Autor Hamed Abdel-Samad im „Cicero“ fest. „Ob Fundamentalismus oder sexuelle Belästigung, ob Integrationsverweigerung oder Kriminalität – wir haben ernsthafte Probleme. Vertuschen und Schönreden aber macht alles nur schlimmer.“

Reines Schwarzsehen auch, könnte man anmerken. Machen es sich regierungskritische Zeitgenossen wie Peter Sloterdijk nicht zu einfach? Sie sagen schließlich nur, was nicht geht, ohne der Öffentlichkeit konkrete Lösungen zuzureichen.

Auf diesen Widerspruch haben Intellektuelle seit jeher mit dem Hinweis reagiert, sie seien für die Analyse zuständig und für Fragen – nicht für Antworten. Unbefriedigend, aber vernünftig.

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