Bonner Opernpremiere Der Schmerz der Frauen

Bonn · Peter Sellars inszeniert John Adams' dramatisches Passionsoratorium „The Gospel According to the Other Mary“ als deutsche Erstaufführung.

 Kreuzigung: Maria Magdalena (Christin-Marie Hill) beugt sich über Jesus.

Kreuzigung: Maria Magdalena (Christin-Marie Hill) beugt sich über Jesus.

Foto: Beu

Der Titel von John Adams' Passionsoratorium „A Gospel According to the Other Mary“ ist – aus kirchlicher Sicht – eine Provokation. Denn ein Evangelium nach (der anderen) Maria gibt es nicht, zumindest kein offiziell anerkanntes. Librettist Peter Sellars bezieht sich mit dem Titel auf eine apokryphe Schrift aus dem zweiten Jahrhundert. Dass manche Gelehrte die Protagonistin dieses Textes als Maria Magdalena identifizieren, war für den Amerikaner Sellars ein Schlüsselreiz, die Passionsgeschichte aus radikal weiblicher Sicht zu erzählen. Der Schmerz der Frauen, ihre Wunden, aber auch ihr Mut, ihre Stärke und ihre Liebe prägen nach seinem Verständnis die Geschehnisse um das Leiden und Sterben Christi. Und für all das steht Maria Magdalena, der diesseitige Gegenpart zur Gottesmutter Maria. Nachdem Sellars 2014 als Regisseur das Stück bereits als Produktion der English National Opera auf die Bühne des London Coliseum gebracht hatte, war er nun auch im koproduzierenden Bonn für die erste deutsche Inszenierung zuständig.

Im Werk selbst spielt das apokryphe Evangelium eigentlich keine Rolle. Das Libretto ist vielmehr eine Collage aus Episoden aus dem Alten und Neuen Testament, die um weitere Texte der amerikanischen christlichen Sozialistin Dorothy Day, der Schriftstellerin Louise Erdrich, von Primo Levi, Rosario Castellanos, June Jordan, Rubén Dario und von der Mystikerin Hildegard von Bingen ergänzt werden. Sie umranken ein Handlungsgerüst, das mit Tod und Wiedererweckung von Marias Bruder Lazarus im ersten Akt beginnt und im zweiten mit der eigentlichen Passion Jesu und der angedeuteten Auferstehung endet – ein Symbol des Überwindens und Ausdruck der Hoffnung.

Doch eine zeitliche Fixierung der Handlung gibt es nicht. Das Oratorium beginnt mit einer Episode aus dem 20. Jahrhundert. „Am nächsten Tag im städtischen Gefängnis wurden wir nach Drogen durchsucht“, berichtet Maria, während wilde Streicherfiguren, knappe Klavierfloskeln, scharfe Bläsereinwürfe und der metallische Klang eines Hackbretts ihre Verzweiflung unterstreichen. Der Chor ruft dazu „Schreit auf, denn der Tag des Herrn ist nahe.“ Die leuchtend sandfarbenen Stoffbahnen von George Tsypins Bühnenbild wirken wie sehr verletzliche, teils schon aufgerissene Haut, eingerissen vom Stacheldraht des Zauns, der die Bühne umgibt, die ein Lagergefängnis, einen Ort grausamster Folter assoziiert. Die australische Dirigentin Natalie Murray Beale lenkt Chor und das beeindruckend präzise spielende Beethoven Orchester souverän durch die komplexen Rhythmen der von der amerikanischen Minimal Music beeinflussten, musikalisch ungemein reichen Partitur.

Den Chor und die Solisten hat Kostümbildner Gabriel Berry in Alltagskleider gesteckt, lediglich die vier ausdrucksstark agierenden Tänzer Iamnia Montalvo Hernandez, Carmen Canas, Keisuke Mihara und Erik Constantin, tragen Schwarz. Sie spiegeln teils die handelnden Figuren wie den auferstehenden Lazarus, besonders beeindruckend aber in der Kreuzigungsszene, die in ihrer pantomimischen Drastik den Schmerz für den Zuschauer nahezu physisch mitfühlbar werden lässt.

Interessanterweise ist Jesus, anders als Maria und ihre Geschwister Lazarus und Martha, keine reale Bühnenfigur. Er wird sichtbar als Tänzer, oder in Auftritten dreier Countertenöre, die den „Evangelisten“ geben. Deren Gesang eignet etwas Körperloses und symbolisiert auch die Dreieinigkeit. Das aus William Towers, Benjamin Williamson und Russell Harcourt bestehende Vokaltrio leistet hier Großartiges.

Eine weitere Hauptrolle übernimmt der großartige Bonner Opernchor

Christin-Marie Hills dramatischer Mezzosopran ist perfekt geeignet für die Gestaltung der sehr expressiven Partie der Maria. Ensemblemitglied Ceri Williams singt die Martha, eine Mezzo-Partie, die ebenfalls einen großen Ausdrucksreichtum verlangt. Und Ronald Samm beeindruckt mit strahlendem Tenor als Lazarus.

Eine weitere Hauptrolle übernimmt der Chor, den Marco Medved musikalisch nahezu perfekt vorbereitet hat. In den turbaartigen Ausbrüchen begeistern die Sänger ebenso, wie in ruhigen, kontemplativen Momenten, wozu das spanischsprachige Lied der Frauen „En un dia de amor“ mit seiner ungemein fein gesponnenen Orchesterbegleitung zählt. Die paar – auch szenische– Unsicherheiten im Chor werden sich in kommenden Vorstellungen sicher noch geben. Am Ende gab es ungeteilten, großen Beifall für einen reichen, dreistündigen Abend, der auch ein Plädoyer für Menschlichkeit und Spiritualität ist.

Weitere Aufführungen: 1., 21., und 23 April; 11. und 14. Mai. Karten u.a. in den Bonnticket-Shops der GA-Zweigstellen. Weitere Infos auf der Homepage der Bonner Oper

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