Paul Verhoeven im Porträt Der Grenzgänger

Bonn · Paul Verhoeven ist Jury-Präsident der Berlinale, die heute eröffnet wird. Eine Woche später startet in deutschen Kinos Verhoevens neuer Thriller "Elle" mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle. Ein Porträt des 78-jährigen Filmregisseurs.

 Ein Leben für den Film: Paul Verhoeven bei den Dreharbeiten zu "Black Book" (2006) in den Studios Babelsberg.

Ein Leben für den Film: Paul Verhoeven bei den Dreharbeiten zu "Black Book" (2006) in den Studios Babelsberg.

Foto: picture-alliance/ dpa/dpaweb

Provokation. Tabubruch. Skandal. Diese drei Worte begleiten das filmische Schaffen von Paul Verhoeven seit Jahrzehnten, seit seinem Opus Magnum "Türkische Früchte" (1973). Drei Worte, die bloß an der Oberfläche kratzen. Seinem Charakter als Filmemacher, seinem künstlerischen Antrieb nähert man sich eher mit Begriffen wie Mut und Ehrlichkeit,

Risiko und Radikalismus. Verhoeven akzeptiert Grenzen nur, wenn er sie überschreiten kann. "Ich gehe immer zu weit, strecke mich nach Dingen, die meine Möglichkeiten übersteigen. Ich verschiebe stets die Grenzen", vertraute er 2001 Jean-Marc Bouineau für den Band "Paul Verhoeven - Beyond Flesh and Blood" an. "Ich versuche, Dinge zu tun, die ich noch nie zuvor getan habe, die gefährlich sind, überwältigend, und mich herausfordern."

Der Grenzgänger, der die Grenzen am liebsten verschiebt, wird Jury-Präsident bei den 67. Internationalen Filmfestspielen von Berlin sein, die am 9. Februar eröffnet werden. Berlinale-Direktor Dieter Kosslick sagt über den erfolgreichsten niederländischen Filmregisseur, der ab Ende der 1980er Jahre Hollywood eroberte: "In der Bandbreite seines Filmschaffens spiegelt sich seine kreative, vielfältige Verwegenheit und sein Experimentierwillen."

Sharon Stone, die zunächst eine Nebenrolle in "Total Recall" (1990) erhielt und dann durch "Basic Instinct" (1992), ebenfalls unter Verhoevens Regie, zum Weltstar wurde, erinnerte sich recht pointiert an den wichtigsten Regisseur ihrer Karriere: "Zu Paul Verhoeven fühlte ich mich gleich hingezogen, obwohl wir uns während der Dreharbeiten heftig gefetzt haben. Paul ist smart, pervers, tiefsinnig und irgendwie interessant."

Pervers? Wie sehr die Schauspielerin damit ins Schwarze traf, zeigte sich in einem Gespräch, das Verhoeven im Jahr 2000 mit John Patterson vom englischen Guardian führte. Im September 1985 hatte der Regisseur die Niederlande, wo er schon berühmt war, verlassen und war auf Empfehlung seines Bewunderers Steven Spielberg nach Los Angeles umgezogen. Dort kannte ihn außerhalb cinephiler Kreise praktisch niemand.

"Einer der Gründe, warum ich das Land verließ, war, dass mir die staatliche Filmförderung keine Gelder mehr zur Verfügung stellen wollte, weil man dort der Meinung war, ich sei ein unanständiger, perverser, dekadenter Mensch", erklärte Verhoeven in dem Guardian-Porträt. "Damit haben sie wahrscheinlich Recht, aber sie hätten dies respektieren sollen." Deutlicher lässt sich die Lebens- und Arbeitsphilosophie dieses unabhängigen Freigeistes kaum auf den Punkt bringen.

Verhoeven kommt am 18. Juli 1938 in Amsterdam zur Welt. Als Kind erlebt er Hinrichtungen seiner Landsleute durch deutsche Besatzungssoldaten, Bombardierungen durch die Alliierten und den Absturz eines abgeschossenen alliierten Flugzeugs dicht bei der elterlichen Wohnung. Unauslöschliche Bilder. Sie werden sich nicht nur tief in die Seele des kleinen Paul brennen, sondern später auch die filmischen Visionen des großen Blockbuster-Regisseurs Verhoeven wesentlich beeinflussen.

"Wenn man ein Kind ist und in einer solchen Welt aufwächst, dann ist das ein Schock, den man nie wieder richtig los wird", stellte der niederländische Filmemacher im Gespräch mit Bouineau fest. "Ich glaube, hier liegt auch die Ursache dafür, dass ich als Erwachsener derart fasziniert bin vom Thema Gewalt."

In seinem Verhältnis zur Gewalt äußert sich ein bestimmendes Merkmal seiner Regie-Konzeptionen, das auch für seinen Umgang mit Sexualität zutrifft: Verhoeven deutet nichts an, er umschreibt nichts. Verhoeven hasst Kompromisse - und geht konsequent aufs Ganze. "Ich habe das Gefühl, es gibt eine gewaltige Diskrepanz zwischen der Realität des Lebens und dem, was wir in Filmen sehen sollen", gibt er in einem Magazin zu Protokoll, das zum Filmstart von "Showgirls" (1995) auf den Markt kommt.

Der unfreiwillig komische Film über eine namenlose Stripperin, die in Las Vegas zum umschwärmten Star einer Showtanzrevue aufsteigt, wird zu Verhoevens einziger kommerzieller wie künstlerischer Niederlage. Aber sogar für die fabelhaft schlechten "Showgirls" gilt, was alle Verhoeven-Filme ausmacht: Sie lassen einen nicht kalt. Mittlerweile genießt der Streifen, der Verhoevens Ruf als Erotomane zementierte, längst Kultstatus.

In den Niederlanden der 1950er Jahre besucht Paul Verhoeven die Universität von Leiden. Im dortigen Filmklub begegnet der Student einer ganzen Reihe von Filmen, deren Regisseure ihn nachhaltig prägen. Bergman, Wilder, Fellini, Welles, Kurosawa. Am meisten jedoch hat ihn Alfred Hitchcock beeindruckt. In einem Interview, das Paul Verhoeven 1993 dem Magazin Post Script gab, sagte er: "Ich denke, man kann jeden Hitchcock-Film ewig lang studieren. Man wird immer Dinge finden, die man für sich selbst verwenden kann."

Vor der Filmkarriere promoviert Verhoeven 1964 zunächst in Mathematik und Physik, mit einem Thema über Einsteins Relativitätstheorie, und drei Jahre später heiratet er seine Freundin, die Psychologin Martine Tours - die Eheleute feiern übrigens am 7. April Goldhochzeit und haben drei Kinder. 1973 werden Paul Verhoeven und seine beiden Hauptdarsteller aus "Türkische Früchte", Rutger Hauer und Monique van de Ven, über Nacht berühmt. Sein im Stil der französischen nouvelle vague gedrehtes, wildes, ebenso lebenshungriges wie schockierendes Liebesdrama war für den Oscar nominiert und wurde 1999 zum "Besten niederländischen Film des Jahrhunderts" gewählt.

Verhoeven vertraute seinem Biografen Douglas Keesey 2005 an: "Ich wäre heute nicht mehr in der Lage, “Türkische Früchte„ zu drehen. Ich bin nicht mehr so naiv und unschuldig wie damals. Das ist alles verschwunden." Die satirische und gewalttätige Actionparabel "RoboCop" wird 1987 in den USA für Paul Verhoeven zum Mitgliedsausweis für die A-Liga - sie spielt das Zehnfache ihrer Produktionskosten ein. Der Film strotzt vor religiösen Anspielungen, ein oft auftauchendes Stilmittel im Werk des Niederländers, und thematisiert die Geldgier großer Konzerne, die Privatisierung der Sicherheit und den Waffenkult der Amerikaner.

Der philosophische Science-Fiction-Kracher "Total Recall" (1990) mit Arnold Schwarzenegger in der Hauptrolle etabliert Verhoeven als Blockbuster-Garant, und der Erotikthriller "Basic Instinct" (1992) mit Michael Douglas und Sharon Stone sorgt mit seinen freizügigen Sexszenen für eine kalkulierte Empörungswelle in den USA. Die berühmte Verhörsequenz, in der Stone im Minirock ihre Beine übereinander schlägt, ging in die Filmgeschichte ein.

Die Science-Fiction-Schlachtplatte "Starship Troopers" (1997) wurde insbesondere in Deutschland als Verherrlichung faschistischer Ideologien fehlinterpretiert und indiziert. Tatsächlich ist der ungeheuer blutige und brutale Film eine beißende, brillante Satire auf Hurra-Patriotismus, diktatorische Gesellschaftssysteme und militärische Propaganda. Aktueller denn je. Nach einem erneut erfolgreichen Ausflug ins Sci-Fi-Genre mit "Hollow Man" (2000) wurde es in der Filmwelt sehr ruhig um Verhoeven, der sich nun umso intensiver mit der christlichen Glaubenslehre und spirituellen Fragen beschäftigte.

2006 folgt dann die stille wie bedeutungsvolle Rückkehr in die Heimat: Verhoeven dreht nach 23 Jahren wieder in Europa. "Black Book" erzählt die Geschichte der Jüdin Rachel Stein (Carice van Houten), die 1945 auf Geheiß des Widerstands und unter dem Namen Ellen de Vries den SS-Mann Ludwig Müntze (Sebastian Koch) verführen soll - das Drehbuch schreibt Verhoeven zusammen mit seinem langjährigen früheren beruflichen Weggefährten Gerard Soeteman. Die Figur der Rachel/Ellen basiert auf der niederländischen Widerstandskämpferin Esmée van Eeghen.

Am 16. Februar 2017 startet in den deutschen Kinos der aktuelle Film des inzwischen 78-jährigen Starregisseurs. "Elle", eine französisch-deutsche Koproduktion, zeigt eine erfolgreiche und selbstsichere Unternehmerin mit zweifelhafter Vergangenheit (gespielt von Isabelle Huppert), die in ihrem Haus von einem Unbekannten vergewaltigt wird. Die Frau beschließt, ohne Polizei ihren Peiniger selbst aufzuspüren. Zwischen Opfer und Täter entwickelt sich ein erotisches Rollenspiel. Isabelle Huppert ist für ihre Rolle in "Elle" bei der diesjährigen Oscar-Verleihung in der Kategorie "Beste Hauptdarstellerin" nominiert.

Auch "Elle" dürfte heftige Diskussionen auslösen. Ganz sicher. Und ganz nach Verhoevens Geschmack: "Ich mag Kontroversen. Es hat mich immer beflügelt, zu sagen: Scheiß drauf. Wenn keiner glaubt, dass ich es drehe, dann mach' ich es erst recht!"

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort