Martin Walser wird 90 Dem Zeitgeist ins Wort fallen

Martin Walser wird 90 und nun auch als politischer Beobachter gewürdigt. Seit einem halben Jahrhundert ist er ein kritischer Zeitgenosse.

 Seinem Gewissen verpflichtet: Martin Walser, aufgenommen im Dezember 2016 in Birnau. FOTO: DPA

Seinem Gewissen verpflichtet: Martin Walser, aufgenommen im Dezember 2016 in Birnau. FOTO: DPA

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Ich möchte nur so lange leben, wie ich arbeiten kann“, hat Martin Walser einmal gesagt. Und so schreibt der heute 90-Jährige einfach weiter, hellwach, sprachschön, unberechenbar. Man könnte jetzt erneut durch seine Romane flanieren, vom Debüt „Ehen in Philippsburg“ (1957) bis zum jüngsten Werk „Statt etwas oder Der letzte Rank“.

Vorbei an der brillanten Wirtschaftswundertrilogie um Anselm Kristlein und durch die Galerie jener Hasenfüße, deren Mittelmaß Walser auf Weltliteraturniveau hob: allen voran Gottlieb Zürn („Jagd“, „Der Augenblick der Liebe“) und Helmut Halm („Ein fliehendes Pferd“, „Brandung“). Walser wagt sich aufs Hochseil der Finanzjongleure („Angstblüte“) oder schlüpft in die Haut von Susi Gern („Der Lebenslauf der Liebe“).

Doch was über dieser Fülle des Fiktiven gern übersehen wird: Der in Wasserburg am Bodensee geborene Autor ist seit fast 60 Jahren ein kritischer Zeitgenosse, der seine Einsprüche gegenüber Politik, Wirtschaft oder Kultur in zahllosen Artikeln und Reden zu Protokoll gibt. „Ewig aktuell. Aus gegebenem Anlass“ heißt die Sammlung dieser Texte, die ihn an Scharfsinn eher über als neben Böll und Grass stellen.

„Ein Buch ist für mich eine Art Schaufel, mit der ich mich selbst umgrabe“, sagt der Schriftsteller, der mit diesen Essays, Briefen und Aufrufen die ganze Republik umgräbt. Sein erstes großes Thema: der Vietnamkrieg. „Offenbar sind wir schon ein Stern in der amerikanischen Flagge“, zürnt er Mitte der 60er Jahre und attackiert die „gedopten Jasager des Völkermords“. Zu dieser Zeit gilt Walser als DKP-Sympathisant, doch tatsächlich hält er sich weder links noch rechts, sondern im Ungemütlichen auf: jenseits der herrschenden Meinung, außerhalb des Reviers der „Gewissenswarte“ und „Zeitgeistdiensthabenden“. Den RAF-Terror nennt er 1977 eine „sinnlose Mordserie“, fügt aber an: „Sage mir, wie du mit deinen Verbrechern umgehst, und ich sage dir, wer du bist.“ Jedenfalls möchte er keine Minister mit „Demagogenschaum“ vor dem Mund.

Wie schnell man vom „Kommunisten“ zum „Reaktionär“ mutiert, spürt er ein Jahr vor dem Mauerfall. Dabei ist er sich im Wiedervereinigungswunsch treu geblieben, der 1977 so klingt: „Wir alle haben auf dem Rücken den Vaterlandsleichnam, den schönen, den schmutzigen, den sie zerschnitten haben, dass wir jetzt in zwei Abkürzungen leben sollen. In denen dürfen wir nicht leben wollen.“

Martin Walsers Interessenhorizont reicht vom Charles-Manson-Prozess (1976) über Mathias Rusts Desperado-Landung auf dem Roten Platz (1987) bis zu Bastian Schweinsteigers „Kniefall“ nach dem WM-Halbfinalaus im „Sommermärchen“ 2010. So wird die Bundesrepublik auch in Randnotizen lebendig.

Und doch ist es die große Geschichte, die ihn 1998 fast zum Aussätzigen macht. „Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede“ nennt er in der Frankfurter Paulskirche seinen Dank für den Buchhandels-Friedenspreis. Der ausdrücklich subjektive Text beginnt und endet mit der Aufforderung, den DDR-Spion Rainer Rupp freizulassen. Doch Schlagzeilen machen diese Sätze: „Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch solche Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität Lippengebet.“ Ungeheuerlich, meinen die meisten Beobachter, die Walser eine Schlussstrich-Mentalität vorwerfen. Und die nicht wissen, dass er schon 1965 am Rand der Auschwitz-Prozesse davor warnt, das KZ zum „Gräuelzitat“ zu machen, das man wenigen Schergen in die Schuhe schieben könne. „Auschwitz lässt sich nicht bewältigen“, ist er überzeugt und warnt vor der Instrumentalisierung des Horrors.

Kaum ist diese Erregungswelle abgeflaut, löst Walser die nächste aus: Er macht Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki in „Tod eines Kritikers“ zur eitlen Kunstfigur André Ehrl-König, von deren Romanschicksal sich FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher herausgefordert fühlt. Der unterstellt Walser ein „Spiel mit antisemitischen Klischees“. Der Querdenker vom Bodensee – ein Brandstifter? Nein. Der Mann mag provozieren und bisweilen irren. Doch er vertraut auch in Meinungsgewittern stets nur einem Kompass: seinem Gewissen. Das diktiert ihm 2009 einen Protestbrief gegen den deutschen Militäreinsatz in Afghanistan. Adressatin: Angela Merkel. Doch als 2016 deren Devise „Wir schaffen das“ Kritik erntet, preist derselbe Zeitzeuge die Willkommenskultur der Kanzlerin.

Auch hier spricht er nicht als Moralapostel der Nation, sondern persönlich. „Ich selbst wäre für die Vorbild-Rolle immer und überall die unmöglichste Besetzung“, meint er.

Doch hier irrt Martin Walser: Wer so intelligent und risikofreudig den „Wahrheitsbesitzern“ ins Wort fällt, wird hierzulande gebraucht. Dringender denn je.

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