GA-Serie "Deutsche Mythen" Dem Selbstverständnis der DDR auf der Spur

Bonn · Die GA-Serie "Deutsche Mythen" widmet sich in dieser Folge dem Selbstverständnis der DDR. Die Serie begleitet die aktuelle Ausstellung des Bonner Hauses der Geschichte

In Hans Pleschinskis Roman „Wiesenstein“ besucht der Kulturfunktionär Johannes R. Becher im Jahr 1945 den weltberühmten Schriftsteller und Nobelpreisträger Gerhart Hauptmann in seinem Anwesen im Riesengebirge. Becher, Mitbegründer des „Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ und später erster Minister für Kultur in der DDR, will Hauptmann für die richtige, also sozialistische Sache gewinnen. „Für ein neues Deutschland“, sagt er, „habe ich es mir zur Pflicht gemacht, sämtliche Emigranten, die guten Willens sind, in der derzeitigen Ostzone zusammenzurufen. Bevor das vereinte Deutschland wiederersteht – was mir, wie jedem Patrioten, ein Herzensanliegen ist –, wird Mitteldeutschland, beziehungsweise nun Ostdeutschland, unter dem Schutze unserer sowjetischen Freunde zur Pflanzstätte einer friedvollen und sozialistischen Kultur werden.“

Der zukünftige SED-Mann Becher formuliert gleichsam ein vorweggenommenes Parteiprogramm: „Zu viel Eigentum von Wenigen wird bei uns in Allgemeinbesitz überführt werden. Gesundheitliche Versorgung wird unterschiedslos jedem zuteilwerden. Profit Einzelner wird zum Gewinn und Segen aller werden. Nationale Überheblichkeit und Rassenwahn werden wir mit Stumpf und Stiel ... beseitigen. Entscheidend dafür, Gerhart Hauptmann, sind Bildung Erziehung und Kultur.“

Das war die Theorie. Becher sah nicht voraus, dass sich der real existierende Sozialismus auf deutschem Boden einmauern würde, damit keiner der Untertanen aus dem Gemeinwesen fliehen konnte. Dass Indoktrination, Bespitzelung und Repressalien zum Alltag gehören würden und die versprochene materielle Sicherheit eine Schimäre wäre, außer für die Eliten des Landes.

Selbst zu Zeiten, als all die Defizite, Widersprüche und Lebenslügen der DDR für alle Welt sichtbar waren, ließ der selbst ernannte Arbeiter- und Bauernstaat nicht von seinen Gründungsmythen. Sie waren unverzichtbare Werkzeuge, um sich ideologisch vom Westen, insbesondere der Bundesrepublik, abzusetzen.

Antifaschistischer Gründungsmythos

Die Ausstellung im Haus der Geschichte „Deutsche Mythen nach 1945“ illustriert, wie sich die DDR als das bessere Deutschland inszenierte – indem sie aus marxistisch-leninistischer Perspektive einen antifaschistischen und klassenkämpferischen Befreiungs- und Gründungsmythos schuf. Die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik war für den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker „geradezu eine geschichtliche Notwendigkeit“, hielt er noch 1989 fest. Die aus dem Geist von Widerstand und Gesellschaftsveränderung geborene Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) erschien da wie ein Naturgesetz. Ebenso „die unverbrüchliche Freundschaft mit der Sowjetunion“ – der Befreierin vom Nationalsozialismus.

Ein Plakat in der Ausstellung zeigt ein Kind und einen sowjetischen Soldaten in inniger Verbundenheit. Auf einem Bild aus dem Jahr 1985 heißt es als Bilanz von 40 Jahren guter Zusammenarbeit: „Dank Euch / Ihr Sowjetsoldaten“. Ab 1958 manifestierten sich Dankbarkeit und Freundschaftsmythos in „Wochen der deutsch-sowjetischen Freundschaft“. Honecker behauptete 1976, dass Dankbarkeit, Liebe und Verehrung für die große, unantastbare Sowjetunion „in den Herzen und Hirnen unserer Menschen eine feste Heimstatt“ gefunden hätten.

Die Mythen der DDR verwandelten sich in Dogmen – mit praktischen, für das Regime ausbeutbaren Folgen. Kritische Geister, wie Teilnehmer am Volksaufstand vom 17. Juni 1953, wurden rhetorisch in die Nähe von Faschisten gebracht. Die Faschismus-Keule war ein bevorzugtes Instrument des DDR-Staats, genau wie die sprachliche Besetzung von Themen wie Frieden und Volk. Vokabeln wie Volkseigentum, Volkskammer, Volksarmee und Volkspolizei sollten einen illusionären Zustand spiegeln: Wir sind DDR. 1989 konterten Leipziger Demonstranten die Lautsprecheransage „Hier spricht die Deutsche Volkspolizei!“ mit einem spontanen „Wir sind das Volk!“

Waffen zu Pflugscharen

Frieden, der in Filmen, Liedern und Bildern von Friedenstauben besungen wurde, bezog sich auch auf die Nationale Volksarmee: eine Armee des Friedens, wie Generalleutnant Heinz Hoffmann es in „Die Volksarmee“, dem Organ des Ministeriums für Nationale Verteidigung, ausführte. Waffen zu Pflugscharen galt nicht für die DDR. Waffen standen hier automatisch im Dienste des Friedens.

Das Staatswappen mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz symbolisierte den behaupteten Bund von Arbeitern und Bauern mit der Intelligenz. Sie sollte der antifaschistische Schutzwall, die Mauer, vor dem zu allem bereiten Staatsfeind im Westen beschützen. Ein Foto von 1971 im Haus der Geschichte erzählt von der erfolgreichen „Sicherung der Staatsgrenze zu Westberlin“, ohne auf Minen und Selbstschussanlagen einzugehen. Näher an der Wahrheit ist ein vom deutschen Grenzschutz aufgestelltes Schild: „Achtung Lebensgefahr. Wirkungsbereich sowjetzonaler Minen.“

Die Ausstellungsstationen über das Selbstverständnis der DDR und die Beziehung zur Bundesrepublik arbeiten erfolgreich mit Gegenüberstellungen und Kontrasten. Sie bringen Ost und West in einen Dialog und korrigieren ein Selbstbild, das der Fernsehjournalist Karl-Eduard von Schnitzler (1918-2001) in seiner Sendung „Der schwarze Kanal“ als nimmermüder Propagandist der DDR und akri-bischer Erfinder von Fake News ausgemalt hatte. Von 1960 bis 1989 war er auf Sendung, idealisierte die Verhältnisse zu Hause und verteufelte den Klassenfeind im Westen. Glaubte er selbst, was er da montagabends dem Volk zureichte? Sein Publikum jedenfalls wusste es besser.

Von Schnitzler sollte den Untergang der DDR noch erleben, den Sieg des Kapitalismus über den real existierenden Sozialismus. Es war ein Akt der Befreiung. Nach dem Herbst 1989 und der Wiedervereinigung entstand ein gesamtdeutscher Mythos. Der 9. November 1989, als die Mauer fiel, steht als Datum für eine geglückte deutsche Revolution. Sie beseitigte ein marodes Regime und eröffnete den Menschen in der DDR jene Freiheit, die ihnen der eigene Staat so lange vorenthalten hatte. Mit allen Risiken und Nebenwirkungen.

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