Stück von Hermann Wolfgang von Waltershausen Das erwartet die Besucher von „Oberst Chabert“ an der Bonner Oper

Bonn · Es ist selten, dass eine Opernausgrabung einen derart aktuellen Stoff zu Tage fördert, wie es bei Hermann Wolfgang von Waltershausens „Oberst Chabert“ der Fall ist. In der Bonner Oper wird das Stück als kostbares Gut behandelt wird.

 Die glücklichen Zeiten sind vorbei: Szene mit Mark Morouse als Oberst Chabert.

Die glücklichen Zeiten sind vorbei: Szene mit Mark Morouse als Oberst Chabert.

Foto: Thilo Beu

Mit der vom Publikum umjubelten Premiere von Hermann Wolfgang von Waltershausens „Oberst Chabert“ hält die erste szenische Wiederaufführung des einstigen Welterfolgs seit mehr als acht Jahrzehnten Einzug auf die Opernbühne. Einen Hinweis, weshalb die am Vorabend des Ersten Weltkriegs 1912 in Frankfurt am Main uraufgeführte Oper trotz der mehr als 100 Inszenierungen, die danach an anderen Häusern folgen sollten, wieder komplett von der Bildfläche verschwand, hat von Walterhausen selbst benannt: „Das Werk wurde, um so mehr, als es die Marseillaise als Leitmotiv enthält, als Verherrlichung Napoleons empfunden.“ Und das war spätestens mit Kriegsausbruch – zumindest in Deutschland – nicht mehr sehr opportun.

Waltershausen selbst hatte die auf Honoré de Balzac zurückgehende Geschichte in ein Libretto umgegossen. Kein typischer Opernstoff eigentlich. Denn im Zentrum steht mit Chabert ein hochdekorierter napoleonischer Soldat, der in der Schlacht bei Preußisch-Eylau im Jahr 1807 schwer verwundet und für tot gehalten wird. Man verscharrt ihn in einem Massengrab, woraus er sich aber befreien kann. Für Chabert beginnt eine jahrelange Odyssee. Man nimmt dem offiziell für tot Erklärten die Geschichte nicht ab, er wird sogar ins Irrenhaus gesteckt. Erst als er bereit ist, sich nicht mehr als Chabert auszugeben, wird er entlassen. Endlich zurück in Paris, muss er feststellen, dass seine Frau Rosine ihn verleugnet. Sie ist längst mit einem anderen verheiratet, zwei Kinder hat das Paar.

Regisseur Roland Schwab platziert den versehrten, an Krücken gehenden Kriegsheimkehrer inmitten von zerklüfteten Stahlbetontrümmern, die Bühnenbildner David Hohmann so arrangiert hat, dass im Hintergrund eine Öffnung für assoziativ eingesetzte Videoprojektionen und ein paar sparsam eingesetzte Kulissen frei bleibt. Man sieht eine Straßenflucht im zerstörten Aleppo, später auch eine Wendeltreppe, ein Riesenrad, bewölkten Himmel oder gegen Ende winterlich entlaubte Bäume. Nur Chaberts Perspektive bleibt stets die aus der Gruft. Man versteht von Beginn an: Er wird sein Trauma niemals überwinden.

Eine an Nieren und Herzen gehende Geschichte

Doch obwohl der Anfang wenig Spielraum für einen glücklichen Verlauf der Handlung bietet, entwickelt sich eine an die Nieren und zu Herzen gehende Geschichte, die gerade von der Ambivalenz der Gefühle lebt. Das liegt vor allem daran, dass Rosines Charakter in Waltershausens Oper differenzierter gezeichnet ist als in Balzacs Vorlage, was Schwab in seiner genauen Personenführung überaus präzise herausarbeitet. Und natürlich gibt das auch der Sopranistin Yannick-Muriel Noah viel Gelegenheit, die Rolle als Frau zwischen zwei Männern so vielschichtig anzulegen, als spiele sie die Tosca. Auch gesanglich gestaltet sie die Rolle bis zum letzten unendlich lang gehaltenen Ton mit allergrößter Hingabe.

Der Bariton Mark Morouse in der Titelrolle ist ebenfalls eine Wucht. Er ist nicht nur Opfer, sondern auch ein Grenzgänger der Gefühle, in dessen Innern Liebe, Hass, Einsamkeit, Hoffnung, Verzweiflung, Aggression und Resignation eine gefährliche Mixtur ergeben. Morouse spielt und singt das mit beeindruckender Präsenz, obwohl er – wie Intendant Bernhard Helmich vor der Premierenvorstellung mitteilte – von einer „starken Halsentzündung“ noch nicht vollständig genesen war. Als sein Gegenpart Graf Ferraud hätte der Tenor Peter Tantsits durchaus noch mehr Kraft in die Partie legen müssen. Die kleineren Rollen waren mit Giorgos Kanaris (Derville), Martin Tzonev (Godeschal) und David Fischer (Boucard) großartig besetzt.

Sechs Gesangssolisten und ohne Chor

Dass die recht kurze, mit nur sechs Gesangssolisten und ohne Chor besetzte Oper dennoch mehr ist als ein Kammerspiel, liegt vor allem am üppigen Orchesterklang, der nicht selten Strauss'sche Dimensionen annimmt. Wollte man sie mit dessen Werken vergleichen, wäre sie eher eine Verwandte des „Rosenkavaliers“ als der „Elektra“. Aber von Walterhausen findet für seine Geschichte eine überzeugende musikalische Sprache, deren Emotionalität ebenso gefangennimmt wie ihre Farbigkeit.

Der kanadische Dirigent Jacques Lacombe, der das Werk 2010 schon einmal in Zusammenarbeit mit dem heutigen Bonner Operndirektor Andreas K.W. Meyer an der Deutschen Oper in Berlin halbszenisch aufgeführt hat, setzt damit zum Abschluss seiner zweijährigen Zeit als Chefdirigent an der Bonner Oper einen markanten Schlusspunkt. Er leuchtet die Farben der Partitur mit souveräner Hand aus. Und das Beethoven Orchester spielt die Musik nicht nur mit größtem Engagement, sondern auch im Gesamtklang wie in den zahlreichen Soli vorbildlich.

Weitere Aufführungen: 21., 27. Juni, 5. und 13. Juli. Karten in den Bonnticket-Shops der GA-Zweigstellen.

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