"Der Fuchs" von Nis-Momme Stockmann Das Buch Marduk

Ein Monumentalgemälde aus Weltverdruss, gezeichnet mit Essig: Nis-Momme Stockmanns legt einen brutalen Endzeitroman vor. Ein Buch, das in Hirn und Seele zu liegen kommt wie ein zu schweres Essen im Magen, das auszukotzen man einfach nicht schafft.

 Der Ozean radiert das ganze Elend vom Antlitz der Erde fort: Nis-Momme Stockmanns Alptraumstadt „Thule“ versinkt in einer gewaltigen Sturmflut.

Der Ozean radiert das ganze Elend vom Antlitz der Erde fort: Nis-Momme Stockmanns Alptraumstadt „Thule“ versinkt in einer gewaltigen Sturmflut.

Foto: picture alliance / dpa

Thule – so nannten die Forscher der Antike den Ort, wo die Welt endet. Und so nennt der Autor Nis-Momme Stockmann den Schauplatz seines ersten Romans. Sein „Thule“ ist eine Kleinstadt an der Nordsee, ein Alptraum der kleinbürgerlich-bösartigen Spießigkeit, wo Konsumgeilheit und versteckte Gewalt regieren, Langeweile und Hass auf alles Außergewöhnliche. Um diesen brutalen Ort herum zeichnet der 34-jährige Autor einen brutalen Endzeit-Roman aus mehr als 700 apokalyptischen Seiten.

In Thule wohnt (von „lebt“ ist keine Rede) der junge Finn – sein Vater ist tot, sein Bruder geistig schwer behindert, seine Mutter steht am Rande der Depression. Dann trifft er Katja: leicht verrückt, aber mutig, klug, schön, voll Fantasie und Loyalität. Sie versucht Finn aus seiner Angst herauszureißen. Er sei etwas Besonderes: Weil jeder etwas Besonderes ist, weil selbst im übelsten Kaff die Achse des Universums liegt.

Dann verschwinden Menschen und tauchen als zerfetzte Leichen wieder auf. Ein abgerissener Arm liegt im Versteck der Kinder. Überall erscheinen geheimnisvolle Symbole: zwei ineinander-stehende Kreise mit einem abwärts-laufenden Strich. Schwarze Käfer plagen das Dorf; eine düstere Gestalt geht um, mit Klauen statt Fingern, rotglühenden Augen, einer Maske vor dem Gesicht. Nur Katja glaubt zu wissen, was los ist: Thule steht im Zentrum einer kosmischen Verschwörung. Finn muss sich dem allen entgegenstellen, sagt Katja – er sei (oder: könne werden) der „Fuchs“, vor dem das Übel sich fürchtet.

Naht ein unintellektueller, aber kathartischer Endkampf gegen das Kleinstadt-Böse (was interessant wäre, selbst wenn wir es schon bei Stephen King gelesen haben)? Naht eine Coming-of-Age-Geschichte mit Happy end (was schön wäre, selbst wenn wir es schon von Wolfgang Herrndorf kennen)? Nichts dergleichen. Leider biegt, was spannend beginnt, in die falsche Richtung ab. Katja verrät Finn, trifft sich ausgerechnet mit den „Baschis“, den übelsten jugendlichen Schindern des Dorfes. Auch Finn verrät Katja; als sie in die Psychiatrie eingewiesen wird, besucht er sie nur, um ihr zu erklären, dass er sich der dunklen Welt Thules nicht entgegenstellen, sondern sich lieber unauffällig in ihrer Mittelmäßigkeit verbergen will.

Der Autor verpackt diese frustrierende Entwicklung in gewichtige Wissenschaftlichkeit (Möbiusbänder, Gödels Unvollständigkeitssatz, Meteorologie, Molekularstrukturen, Pyritkristalle) und popkulturelle Anspielungen. „Setz“ heißt eine Figur (wie ein für brutale Bücher berüchtigter Österreicher). „Schätzing“ heißt eine andere – an einer Stelle der Handlung, wo es um die „Schwarm“-Dummheit geht.

Als intellektuelle Säule baut Stockmann die altbabylonische Mythologie in die Handlung ein: Wie die Ozean-Urmutter Tiamat das All aus sich hervorgehen lässt. Wie Apzu, der erste Gott, ihr aus Eitelkeit nacheifert und den „Marduk“ konstruiert, eine finstere Gestalt mit glühenden Augen, umschwärmt von schwarzen Käfern: Marduks erste Tat ist es, Apzu zu töten.

Aus der Schandtat erwächst eine Welt aus Gewalt, Hass und Sinnlosigkeit. Finn (und Katja sowieso; wie die meisten Handlungsstränge und Personen verschwindet sie bald wieder aus dem Blick) wird zur Randfigur auf einem kosmischen Schachbrett. Der Ozean beginnt sich zu regen und wischt die ganze verderbte Homo-sapiens-Bande vom Antlitz der Erde fort. Thule versinkt in einer Sturmflut, die wenigen Überlebenden massakrieren sich gegenseitig. Was von der Menschheit noch übrig ist, zerstäubt als Epilog im Weltraum.

Selbst wenn so ein Tabula-rasa-Finale nach jungautorenhaft postpubertärer Rachefantasie aussieht: Wenn man so will, hat dieses Buch die Perfektion aller Literatur erreicht – es ist mit dem, was es beschreibt, quasi deckungsgleich. Es könnte auch „Das Buch Marduk“ heißen; es gleicht seiner Figur, gewaltsam und kopflastig konstruiert, zum Zwecke der Zerstörung geschaffen (alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrundegeht; kennen wir schon).

Faszinös zum Beispiel die zweite Hälfte des Buches: Acht (oder so, genau ist das nicht erkennbar) verschachtelte Handlungslinien, ein 29 Seiten langer, sprachgewaltig-logorrhöischer Monolog von Selbst- und Weltverdruss mittendrin. Ein Buch wie ein Schlachtengemälde – gezeichnet nicht mit Farbe, sondern mit Essig, Gift, Blut oder noch unangenehmeren Substanzen. Ein Buch, das in Hirn und Seele zu liegen kommt wie ein zu schweres Essen im Magen, das auszukotzen man einfach nicht schafft.

Dies Buch, auf sehr spezielle Art „groß“, wie es auch ein Tsunami oder ein Crystal-Meth-Rausch sind – lesen Sie es ruhig, wenn Sie zum Beispiel wissen wollen, wie drei Männer kleine Tiere zu Tode quälen (beschrieben auf Seite 385 bis 394) oder eine Lokalpolitikerin im Irrsinn versinkt (Seite 321 bis 407).

Lesen Sie es besser nicht, wenn Sie schlecht geschlafen haben oder gut schlafen wollen; wenn Sie Unangenehmes erlebt haben; wenn Sie in angenehmen Dingen künftig noch einen Sinn sehen (oder sie sinnlos genießen) wollen; wenn Sie noch irgendetwas schön, niedlich, nützlich, lustig, wertvoll oder sonstwie nicht-negativ finden wollen. Wer das will (so scheint Stockmann zu sagen), ist blind und dumm. Mag sein. Aber lieber das, als sehend und wahnsinnig.

Nis-Momme Stockmann: Der Fuchs. Rowohlt, 719 S., 24,95 Euro

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort