Prinz Maximilian zu Wied Chronist am süßen Fluss

Schon als Kind streifte Prinz Maximilian zu Wied lieber durch die heimischen Wälder, als zu Hause im elterlichen Schloss zu hocken. Auf seinen Expeditionen zu den indigenen Völkern Brasiliens und Nordamerikas beschrieb der Neuwieder eine Welt, die schon dem Untergang geweiht war. Die Universität Bonn brachte der naturforschende Adlige erst kürzlich in diplomatische Nöte.

 Im brasilianischen Urwald: Prinz Maximilian zu Wied mit dem jungen Einheimischen namens Nuguäck, den er auf dessen Wunsch mit nach Neuwied nimmt und ihn Joachim Quäck nennt. Das Bild stammt von dem Koblenzer Maler Johann Heinrich Richter

Im brasilianischen Urwald: Prinz Maximilian zu Wied mit dem jungen Einheimischen namens Nuguäck, den er auf dessen Wunsch mit nach Neuwied nimmt und ihn Joachim Quäck nennt. Das Bild stammt von dem Koblenzer Maler Johann Heinrich Richter

Foto: Stadt Neuwied

Der Mann notiert sorgfältig jedes Detail: „Wir hatten 16 Maulthiere angeschafft (…) und zehn Menschen, theils zur Wartung unserer Thiere, theils als Jäger in unsere Dienste genommen“, schreibt Maximilian zu Wied 1815 in sein Tagebuch. Außerdem hat der Rheinländer umsichtig 32 Holzkisten eigens mit Ochsenhaut zur Abwehr von Schlamm und Staub beziehen lassen. Während zu Hause der Wiener Kongress Europa neu ordnet, zieht der 33-Jährige so ausgerüstet und von Moskitos, Hitze und wilden Tieren geplagt aus freien Stücken durch den brasilianischen Dschungel. Schon „von einer Tasse Thee geriet man sogleich in starke Transpiration“, erinnert Wied sich später schaudernd.

Was soll man auch von einem Jungen erwarten, der schon als Kind mehr durch die heimischen Wälder streift, statt im elterlichen Schloss in Neuwied zu hocken. Von einem Schüler, der in Christian Friedrich Hoffmann einen Zoologen und Archäologen zum Hauslehrer erhält, der mit eigenen Ausgrabungen am Limes-Kastell in Niederbieber bei Neuwied von sich reden macht und den Entdeckergeist in dem Jungen weckt. Und das zu einer Zeit, als durch die Französische Revolution sowieso alles durcheinander geraten ist.

So findet sich Max zu Wied nach einigen Jahren in der preußischen Armee, kurzem Studium in Göttingen und als beurlaubter Major des Brandenburgischen Husaren-Regiments schließlich 1815 als Naturforscher in der Neuen Welt wieder. Sein Vorbild, der weit gereiste Universalgelehrte Alexander von Humboldt, hat ihn in Briefen dazu ermutigt.

Zwei Jahre lang zieht Wied auf eigene Kosten und sicherheitshalber unter falschem Namen von Rio de Janeiro aus 2000 Kilometer durch die Wildnis. Er sammelt Vogelbälge, presst Pflanzen, studiert sechs Indio-Stämme. Er sieht Arten und Völker, die dort heute längst ausgerottet sind – und er ahnt dieses Schicksal, auch wenn er an die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen nicht glauben will.

Wieder zu Hause, muss der Dschungel-Prinz jahrelang seine Schulden ans fürstliche Rentamt abstottern. Mit seiner umfangreichen Sammlung – ein Teil davon wird heute im Schloss Neuwied aufbewahrt, der Rest in Wiesbaden und Washington – kann er aber auch Dutzende neue Arten beschreiben und erregt mit seinen lebendigen Schilderungen die Aufmerksamkeit vieler Zeitgenossen, selbst die des viel beschäftigten Weimarer Geheimrats Johann Wolfgang von Goethe.

Vor allem die Menschen interessieren den Autodidakten aus Neuwied – Menschen, die abends am Lagerfeuer zur Musik „mit dem Körper sonderbare Verdrehungen machten“ – womöglich erste Samba-Schritte. Besonders die Boto-kuden mit ihren Holzscheiben in Lippen und Ohrläppchen wecken sein Interesse. In Wieds Augen sind die Jäger und Sammler zunächst „Barbaren (…) im rohen Zustande der Natur“.

Zunehmend aber erkennt der rheinische Prinz in den Stammesmenschen am Rio Doce (dem „süßen Fluss“) ein stolzes Volk, das sich vergeblich gegen das Eindringen der Siedler und Goldschürfer wehrt. Vor allem ein 15-jähriger Junge wird zum Vermittler zwischen den Kulturen und weiht Wied in die Traditionen der Botokuden ein. Dann jedoch bekommt der Überläufer zunehmend Angst vor seinem eigenen Volk. Er hält die Waldmenschen für Kannibalen und diktiert das seinem weißen Freund ins Tagebuch.

Kurzerhand nimmt der Adlige den jungen Mann namens Nuguäck deshalb in seine Dienste und als Joachim Quäck mit zurück nach Neuwied. Das konnte der Prinz nicht ahnen: Ausgerechnet sein Buch „Reise nach Brasilien“ – zuletzt 2015 als Reprint erschienen in „Die Andere Bibliothek“ (608 S., 99 Euro) – trägt im 19. Jahrhundert erheblich zur Verfolgung des Stammes in Brasilien bei. Und Quäck, der als Kammerdiener im Schloss bleibt, verfällt vor Heimweh und zerrissen zwischen den Kulturen dem Alkohol. Im Frühsommer 1834 stirbt er.

Sein Herr ist derweil wieder auf Tour. 1832 schifft sich Max zu Wied erneut ein. Zwei Jahre lang reist er durch Nordamerika, zu den Indianern westlich des Missouri, damals die Grenze der europäisch zivilisierten Welt. Womöglich werden seine Schilderungen (angereichert mit etlichen Passagen über die Sexualpraktiken der Stämme) später zur Vorlage für Karl Mays Figur Old Shatterhand.

Wieds Reisegefährte Karl Bodmer liefert 400 Aquarelle und Skizzen und kümmert sich später um die Buchausgabe. Die Wirtschaftskrise der 1840er-Jahre, die Revolution von 1848 und weitere Verwicklungen führen dazu, dass das imposante Werk kaum Beachtung findet. Vor 150 Jahren, am 3. Februar 1867, stirbt Maximilian zu Wied weitgehend unbeachtet an Lungenentzündung. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg tauchen Bodmers Bilder im Schloss Neuwied wieder auf und gehen auf Wanderschau durch Nordamerika, wo sie heute in Omaha (Nebraska) dauerhaft zu sehen sind. Sie zeigen eine Welt, die nicht mehr existiert.

Im 21. Jahrhundert bringt Max zu Wied posthum die Bonner Universität in diplomatische Nöte. 1834 hat der Prinz Joachim Quäcks Schädel der Anatomischen Sammlung (Abteilung „Schädel fremder Rassen“) übereignet. 2010 wird das längst eher peinliche Präparat zum Politikum. Denn die brasilianische Stadt Jequitinhonha möchte den Schädel Quäcks dessen Nachfahren übergeben, als spätes Zeichen der Versöhnung der weißen und der indigenen Völker.

Das Auswärtige Amt schaltet sich ein. Schließlich reist im Mai 2011 Professor Karl Schilling, geschäftsführender Direktor des Anatomischen Instituts, mit den sterblichen Überresten nach Brasilien. Nuguäck kommt nach 177 Jahren nach Hause. Die Schilderungen des rheinischen Reise-Prinzen bleiben erhalten – als eine Mahnung an die Menschheit. Seine Chronik vom süßen Fluss ist heute so aktuell wie damals.

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