Klartext in Grün Buchrezension: "Wir können nicht allen helfen" von Boris Palmer

Der Tübinger Oberbürgermeister legt seine Sicht auf die Flüchtlingskrise vor. "Wir können nicht allen helfen" ist ein grundvernünftiges Buch.

 Parteirebell mit Leitkultur: Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer vor dem historischen Rathaus seiner Stadt.

Parteirebell mit Leitkultur: Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer vor dem historischen Rathaus seiner Stadt.

Foto: picture alliance / dpa

Wie viel Moral verträgt die Politik? Boris Palmer stellt diese Frage am Beispiel der Flüchtlingsdebatte seit 2015, aber er stellt sie viel grundsätzlicher, weil ihm der Fundamentalismus vieler Zeitgenossen in Fragen der Ernährung, des Tierschutzes, der Sexualmoral oder des Feminismus offenkundig auf die Nerven geht. Palmer ist in einer besonderen Situation, denn er ist Oberbürgermeister in Tübingen und er ist Mitglied der Grünen.

Diese Mischung brachte ihm jede Menge Ärger, denn als Oberbürgermeister ist Palmer Pragmatiker. Anders lässt sich eine Stadt kaum regieren. Als Tübinger ist er mit einem pietistisch unterlegten linksliberalen grünen Rigorismus konfrontiert, der in den Mauern südwestdeutscher Universitätsstädte bestens gedeiht. Als Grüner teilt er das politische Dasein in seiner Partei mit Ideologen aller möglichen Schattierungen.

Nach dem Ende der großen Ismen haben sich dort die kleinen reinen Lehren ausgebreitet, die mit verbitterter Intoleranz zum Maßstab jeden politischen Handelns erhoben werden. Für einen Rathauschef, der antreten muss, ein paar Hundert Flüchtlinge von jetzt auf gleich angemessen unterzubringen, ist es nahezu ausgeschlossen, alle wohlmeinenden Wünsche, oder besser Forderungen auch zu erfüllen.

Weil Palmer gleichzeitig ein Mann ist, der die Auseinandersetzung nicht scheut und gerne provoziert, eskalierte die Sache rasch. Palmer war Mittelpunkt heftiger Debatten, Ziel böser persönlicher Angriffe. Man beschimpfte ihn als Rassisten und legte ihm den AfD-Beitritt nahe. Weggefährten distanzierten sich. Man legte ihm den Parteiaustritt nahe und den Rücktritt sowieso: „Wir können nicht allen helfen“ ist seine Zusammenfassung dieser Debatten.

Argumentationsstarke Diagnose

Palmers Thesen sind alles andere als eine Provokation. Er liefert einen eher nüchternen Bericht, wie er sich immer wieder wunderte, dass seine Beobachtungen und die Forderungen seiner Partei so weit auseinanderlagen. Palmer versucht Erklärungen zu finden für diese Realitätsverweigerung, die den Zustrom vieler armer, schlecht ausgebildeter und traumatisierter Menschen idealisierte, darunter eine sehr große Zahl junger Männer.

Die grundvernünftige und argumentationsstarke Diagnose ist die eines Menschen mit Verantwortung. Er muss sich um jene kümmern, die Angst haben müssen, wenn viele Tausend einfache Arbeitskräfte zuwandern. Und er muss sich um jene kümmern, die davon gar nicht betroffen sind und nur helfen wollen. Oberbürgermeister ist der wohl anspruchsvollste Job, den die Politik in Deutschland zu vergeben hat. Die Zahl der Herausforderungen und Themen ist vielfältig. Die Fragen sind groß, die Lösungswege oft kleinteilig.

Was der Oberbürgermeister über die Argumente und Vorgehensweisen seiner politischen Gegner zu sagen hat, ist unbequem. Er schaut sich an jenen Stellen genauer um, wo viele seiner Parteifreunde gar nicht erst stehen bleiben, weil Beobachtungen Überzeugungen in Frage stellen würden: Kriminalität bestimmter Zuwanderergruppen, das Problem junger Männer ohne familiäre Bindungen, die überforderten ehrenamtlichen Helfer, die Notwendigkeit von Abschiebungen, das Verhältnis der Grünen zur Polizei, die Rolle der Medien, die sozialen Medien als Krisenverschärfer, Fragen der Debattenkultur.

Warnung vor moralischer Selbstgerechtigkeit

Palmer schreibt immer aus eigenem Erleben, und das stellt auch jenen oft ein schlechtes Zeugnis aus, die doch meinen, moralisch auf der richtigen Seite zu stehen. Parolen sind seine Sache nicht, daher ist er weit entfernt von der Agitation einer AfD. Ihm geht es um das Austarieren zwischen Moral und Möglichkeiten. Überhöhte moralische Ansprüche schaden bisweilen, weil sie eine unvoreingenommene Analyse der Probleme verhindern.

Palmer warnt das linksliberale Bürgertum vor moralischer Selbstgerechtigkeit. Er wirbt für eine Debatte, die Andersdenkende nicht zu Feinden erklärt. Pragmatismus ist nicht nur bei den Grünen ein Problem. In Schwäbisch Gmünd regiert ein CDU-Mann die Stadt. Er hat ähnliche Probleme wie der Grüne Palmer. Das ist nicht sehr beruhigend.

Am Ende ist sein Buch ein Plädoyer für eine Ethik der Verantwortung allen Beteiligten gegenüber, nicht nur den Flüchtlingen. Das beinhaltet harte Entscheidungen. Palmer weicht ihnen nicht aus und wirbt für Realpolitik. Ein böses Wort für alle, die es lieber mit der Moral halten, selbst wenn das in die Katastrophe führt.

Boris Palmer: Wir können nicht allen helfen. Ein Grüner über Integration und die Grenzen der Belastbarkeit. Siedler, 256 S., 18 Euro

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